Achtsames Schreiben
Schreiben als intimer Prozess der Selbstentfaltung
Während ich diesen Artikel schreibe, versuche ich, ganz präsent zu sein. Ich spüre meinen Atem, die Atembewegungen in meinem Körper, sanfte Wellen, denen ich mich hingebe, um mit dem Bewusstseinsstrom fließen zu können und über das zu schreiben, was mir am Herzen liegt: Achtsames Schreiben. Schreiben als Meditation.
Die Sehnsucht, wirklich zu leben und nicht nur die Rolle des Zuschauers in unserem Leben zu spielen, scheint ihre Erfüllung in der Achtsamkeitspraxis zu finden. Zumindest versprechen seit geraumer Zeit unzählige Angebote rund um die Achtsamkeit, dass sich das wirkliche Leben bei kontinuierlicher Übung erfüllen werde. Inzwischen ist Achtsamkeit zum regelrechten Megatrend geworden, der alle Lebensbereiche erreicht hat. Neben einer bewussteren Lebensführung, dem ersehnten Schlüssel zum Glück im Augenblick, sollen Stress und Ängste reduziert werden und die Resilienz gestärkt werden. Tatsächlich fördern zahlreiche Studien erstaunliche Ergebnisse zu Tage und zeigen, dass die Achtsamkeitspraxis nicht nur ein Trend unserer Zeit ist.
Studien zur Achtsamkeit
Die Achtsamkeitsforschung deckt ein breites Spektrum hinsichtlich Anwendungen und Zielgruppen ab - von Wirkungen im Umgang mit chronischen Schmerzen und Krankheiten sowie mit psychischen Leiden bis hin zu heilsamen Effekten bei Kindern in Kindergarten und Schule. Studien zur Erforschung der Achtsamkeitspraxis finden sich mittlerweile zur genüge. Die Webseite des MBSR Verbandes listet eine Vielzahl aktueller Studien rund um das Thema Achtsamkeit auf. Eine umfassende Sammlung an Informationen und Hintergründen findet sich auch auf der Webseite der University of Massachusetts Medical School. Außerdem stellt das National Center for Biotechnology Information, U.S. National Library of Medicine auf seiner Webseite eine Auswahl an Studien zur Einsicht zur Verfügung sowie die Harvard Universität.
Die Wurzeln der Achtsamkeit
Im spirituellen Sinne bedeutet Achtsamkeit aber mehr als das, was im therapeutischen Kontext unter diesem Begriff verstanden wird. Im Buddhismus bezeichnet Achtsamkeit (Pali: sati; Sanskrit: smṛti) eine grundlegende meditative Praxis, die nahezu allen buddhistischen Schulen zugrunde liegt. Sati, das gegenwärtige Gewahrsein, meint eine Geistesqualität, die in vollem Umfang wahrnimmt, was körperlich und geistig von Moment zu Moment geschieht (vgl: Sati in den Pali Lehrreden, Bhikkhu Analayo). Diese umfassende Form der Wahrnehmung ermöglicht tiefe Einsichten in die körperlichen und geistigen Prozesse, ihr Entstehen und Vergehen, sowie in das Prinzip von Ursache und Wirkung, sodass unsere wahre Natur (die Buddha-Natur) zur Entfaltung kommen kann, die frei von Leid darauf ausgerichtet ist, alle Wesen vom Leid zu befreien.
Achtsamkeit spielt aber nicht nur im Buddhismus eine zentrale Rolle. Auch in vielen anderen spirituellen Lehren und Traditionen wie beispielsweise im Ursprungstext des Yoga, dem Yogasutra von Patanjali, oder in den Predigten des Theologen, Philosophen und christlichen Mystikers Meister Eckharts (1260 bis 1328) kommt der Achtsamkeit eine große Bedeutung zu.
Kreatives Schreiben als Therapie
Doch wie lässt sich die Achtsamkeitspraxis mit dem Schreiben verbinden? Zunächst ist jedes Schreiben ein schöpferischer Akt, der inneres Erleben zum Ausdruck bringen und körperliches und geistiges Leiden lindern kann. Die wissenschaftliche Erforschung des therapeutischen Effekts des Schreibens befindet sich zwar noch in der Anfangsphase, hat aber einige Ansätze zum Schreiben bereits als hilfreich anerkannt, darunter das Expressive Schreiben.
Begründet vom amerikanischen Psychologen James Pennebaker hat sich das Expressive Schreiben mittlerweile in zahlreichen wissenschaftlichen Studien als wirksame begleitende Maßnahme einer Psychotherapie erwiesen (s. u.: Literatur). Über den aktuellen Forschungsstand erfahren Sie mehr in dem wissenschaftlichen Artikel Expressives schreiben als Copingtechnik: ein Überblick über den Stand der Forschung.
Kreative Schreibmethoden als Richtlinie
Zu den weiteren Methoden des therapeutischen oder kreativen Schreibens zählen unter anderem das Autobiografische Schreiben, das Tagebuchschreiben und die Poesietherapie. Eine detaillierte Studie zur Wirksamkeit des kreativen Schreibens findet sich in dem Buch „Praxisfelder des kreativen und therapeutischen Schreibens“, herausgegeben von Renate Haußmann, Silke Heimes und Petra Rechenberg-Winter (s. u.: Literatur).
Allerdings sollte bei den wissenschaftlich erforschten Methoden nicht in Vergessenheit geraten, dass es letztlich unzählige Schreibtechniken gibt, die sich heilsam auswirken können. Die oben genannten Schreibtechniken verstehen sich lediglich als grobe Richtlinie und nicht als letztendliche Wahrheit. Selbstexperimente sind ausdrücklich erwünscht, um herauszufinden, welche Methode sich als stimmig erweist.
Was es braucht
Benötigt werden zunächst nur genügend Zeit und ein stimmiger Ort. Wir können mit der Hand schreiben, auf einem Computer oder auch in ein Aufnahmegerät sprechen. Allerdings erweist sich Handschreiben als ganzheitlicher Prozess, der eine bessere Wahrnehmung und ein tieferes Durchdringen ermöglicht. Entsprechende Studien belegen einen Zusammenhang zwischen der Handschrift und der Aktivität verschiedener Gehirnregionen. (Vgl.: The Pen Is Mightier Than the Keyboard: Advantages of Longhand Over Laptop Note Taking, Pam A. Mueller and Daniel M. Oppenheimer, Princeton University and University of California, Los Angeles,2014 und STEP 2019 – Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben.
Achtsames Schreiben als Meditation
Nach meiner Erfahrung reicht allerdings die Wirksamkeit des Achtsamen Schreibens weit über die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Effekte kreativer und therapeutischer Schreibtechniken hinaus, beschränken sich diese doch auf kognitive Vorgänge, Emotionen und körperliche Reaktionen. Achtsames Schreiben bedient sich einer allumfassenden Geistesgegenwart, wie sie ihren Ursprung u. a. im Buddhismus findet (s. o.). Es ist ein intimer Prozess, bei dem ich der innersten Quelle nachspüre, der innersten Wahrheit, dem wahren Selbst, was auch immer es sein möge.
Lauschend Schreiben
Ich weiß überhaupt nichts über Bewusstsein.
Ich versuche einfach nur, meine Schüler zu lehren,
wie es geht,
das Lied der Vögel zu hören.
Suzuki Roshi
Dabei spielt das Lauschen eine bedeutende Rolle. Wir lauschen nach innen, um mit den tiefsten Schichten unseres Wesens in Berührung zu kommen - wie in einer Meditation – frei von Konditionierungen, ohne Kontrolle, absichtslos, mit Leichtigkeit und entspannt. In diesem Loslassen kann der Geist frei schweben und ich erfahre Intimität - Intimität mit mir und mit all dem, was mich umgibt. Intimität mit dem Augenblick. Was auch immer in meinem Bewusstsein zur Erscheinung kommt, alles darf sein. Aus dieser wunderbaren Präsenz heraus, diesem absichtslosen Anwesend-Sein ereignet sich das Schreiben.
Täglich können wir dieses Lauschen weit in die Welt hinein öffnen, dem Pulsschlag der Erde und des Himmels lauschen, dem Vergehen und Entstehen, unserer Familie und Freund*innen, den Kindern, dem lauten Stürmen und Wüten der Zeit – so wie es in dem kleinen Gedicht des persischen Dichters und Mystiker Hafis beschrieben wird:
Wie höre ich
anderen zu?
So,
als wäre
jeder mein Meister,
der seine
kostbaren
letzten Worte
spricht.
Meditative Bewegungen, wie im Qi Gong, Tai Chu Chuan oder Yoga praktiziert, können den Schreibfluss unterstützen, das dieser geprägt ist von dem Zusammenspiel von Körper, Geist und Herz. Auch Atemübungen können sich als hilfreich erweisen, um zu sich selbst Zugang zu finden, ungehindert zu erleben und sich auszudrücken.
Literatur
James Pennebaker: Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe, Hogrefe AG Berlin 2019, 184 Seiten, 19,95 €, erhältlich im Buchhandel vor Ort oder bei buch7.de, dem Online-Buchhandel mit sozialer Seite.
Sandra Miriam Schneider: Achtsames Schreiben. Wie Sie Klarheit und Gelassenheit gewinnen, Dudenverlag Berlin 2018, 156 Seiten, 15 €, erhältlich im Buchhandel vor Ort oder bei buch7.de.
Hrsgg.: Renate Haußmann, Silke Heimes und Petra Rechenberg-Winter: Praxisfelder des kreativen und therapeutischen Schreibens, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG Göttingen 2013, 314 Seiten, 27,99 €, erhältlich im Buchhandel vor Ort oder bei buch7.de.
Ein Artikel von
Freie Autorin, Text, Lektorat
Hegede 6
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