Die Philokalia und die Achtsamkeit
Wüstenväter: Achtsamkeit und Stressreduzierung
Die Philokalia ist eine komplexe Sammlung mystischer Texten, die von spirituellem Meistern der orthodoxen christlichen Tradition zwischen dem 4. und 15. Jahrhundert in den Wüsten Ägyptens verfasst wurde. Die Anthologie dokumentiert die Gedanken und tiefen Gefühle der Wüstenasketen. Ihrer Suche entsprang das „innere Gebet“, das zu einem zentralen Bestandteil spiritueller Bestrebungen wurde.
Die bisher wenig bekannten Texte der Philokalia bieten uns einen erstaunlichen Einblick in die Versuche und Bestrebungen unserer Vorfahren, den Sinn unserer menschlichen Existenz zu erfassen, ähnlich den 3.000 Jahre alten Veden, den heiligen Schriften Indiens. Ein solcher Einblick in eine fast 2.000 Jahre alte Sammlung wissenschaftlicher Kommentare zu den Bewegungen des menschlichen Geistes, dem Bemühen, sich selbst zu verstehen und zu entwickeln, ist außergewöhnlich.
Philokalia – die Liebe zur geistigen Schönheit
Der Begriff "Philokalia" kommt aus dem Griechischen und bedeutet „die Liebe zur Schönheit“, das heißt, der Tugend oder der geistigen Schönheit. Die Textsammlung wurde im 18. Jahrhundert von den griechischen Mönchen St. Nikodimos vom Heiligen Berg Athos (1749 - 1809) und St. Makarios von Corinth (1731-1805) zusammengestellt und erstmals 1782 in Venedig veröffentlicht. 1893 erschien eine zweite Auflage. Diese enthielt zusätzliche Gebetstexte von Patriarch Kallistos. Eine dritte Ausgabe in fünf Bänden wurde 1957 bis 1963 von der Astir Publishing Company veröffentlicht.
Die Philokalia ist das mystische Kernwerk der orthodoxen christlichen Kirchen. Die Wirkung der Texte ging jedoch weit über die Kirchen der Orthodoxen hinaus. Ähnlich wie die Veden, die heiligen Schriften des Hinduismus, gehen die Wüstengelehrten dem menschlichen Geist und seiner Funktionsweise auf den Grund und bieten einen psychologischen Leitfaden zur Stabilisierung unseres Geistes.
Achtsamkeit - eine 2.000 Jahre alte Perspektive
Viele Texte der Philokalia behandeln psychologische Themen wie Leidenschaft, Wachsamkeit, Fantasie oder auch Versuchungen. Doch die psychologische Wirkung der Philokalia wurde bis heute nur wenig beachtet.
Leidenschaft und die Besänftigung des Geistes
Aus Erfahrung wissen wir alle, dass Leidenschaft eine das Gemüt vollkommen ergreifende Emotion ist. Sie kann Formen der Liebe und des Hasses beziehungsweise der Anziehung und Abneigung umfassen. Als Reaktion organisieren sich unsere Gefühle auf jeweils spezifische Reize: Wenn wir einen Reiz oder ein Objekt als angenehm empfinden, entsteht Anziehung bis hin zu starkem Begehren. Wird der Reiz oder das Objekt hingegen als unangenehm empfunden, können Gefühle wie Hass, Angst, Wut, Eifersucht oder Neid aufkommen. Die Wüstenasketen betrachteten die verschiedenen Grade der Leidenschaft bis hin zu einer Intensität, die von unersättlichem Verlangen gekennzeichnet ist und zu Schaden wie mentaler Desorganisation führen kann. Gedanken überfluten uns und nehmen uns die Möglichkeit der Konzentration. Der stressauslösende Aspekt der aufkommenden Emotionen wird klar umrissen.
Diesem unruhigen Geisteszustand versuchten die Wüstenväter mit entsprechenden Übungen der Achtsamkeit zu begegnen. Sie erkannten jedoch, dass die Erregung und Energie, die mit solchen Geisteszuständen einhergehen können, auch konstruktiv für die Lösung von Problemen und das erfolgreiche Bewältigen bestimmter Aufgaben genutzt werden können. „Leidenschaftslosigkeit“, ein Begriff, der ebenfalls auftaucht, bezeichnet dagegen die Besänftigung des Geistes, um sich selbst und anderen möglichst nicht zu schaden, und nicht die völlige Beseitigung der Leidenschaft.
Wachsamkeit – geistesgegenwärtiges Sein
Der griechische Begriff „Nepsis“ bedeutet Wachheit oder Wachsamkeit, und wird bis heute verwendet. In den Texten der Philokalia steht dahinter ein Konzept, das in seiner Praxis der modernen Achtsamkeit nahekommt, deren Ziel es ist, geistesgegenwärtig zu sein und sich vollkommen auf die Unmittelbarkeit des Moments einzulassen. Wachsamkeit und eine Form des offenherzigen Gewahrseins werden von den Wüstenvätern als Praktiken geschildert, die mehrere Prinzipien umfassen:
• nicht wertend Aufmerksamkeit schenken
• absolute Wahrheitsansprüche oder Urteile loslassen
• im Moment zu leben
• unmittelbare Empfindungen und Gefühle akzeptieren, unabhängig davon, ob angenehm oder unangenehm
Das „Herz“ bildet dabei das spirituelle Zentrum und umfasst den ganzen Menschen in seinem So-Sein.
Fantasie
Ein wesentliches Konzept der Philokalia ist die „Fantasie“. Die antiken Erklärungen verstehen fantasiereiche Erfahrungen in Form von Bildern und Visionen als Hinweis auf den Aufmerksamkeitsfokus einer Person. Der Scheinwerfer wird von der äußeren Sinnenwelt auf die innere Bilderwelt und unbewusste Prozesse gerichtet. Die Wüstenmönche interpretieren diese Erfahrungen als Quelle unvermeidlicher Ablenkung und potenzieller Täuschung, die es zu überwinden gilt, da diese nicht der mentalen Selbstdisziplin dienen.
Kontemplation und emotionale Intelligenz
„Reines Gebet“ gilt in der Philokalia als hochgradig verfeinerte Kontemplation. Dazu gehört eine individuell angepasste Atemregulierung, die für jede Achtsamkeit-, Wachsamkeit- und Stille-Praxis von äußerster Wichtigkeit ist. Wachsamkeit, Stille (griech.: Hesychasmus) und ein aktives Lauschen sind entscheidend.
Verlockung als Chance
Da Versuchungen für die Mönche allgegenwärtig waren, untersuchten sie diese sorgfältig und verstanden diese als Zeichen bedeutsamer Entwicklungsstadien. Äußerst verlockende Reize, so die Wüstenväter, können zu akutem Stress führen, und werden als Versuch oder Test verstanden, die Entwicklung des Geistes voranzutreiben und die Vervollkommnung des Menschseins zu unterstützen. Das Verlangen entfaltete sich somit als ein Suchen und Tun hin zum wahren Menschsein.
Fazit
Es ist beeindruckend zu erkennen, dass die Achtsamkeit in ihrer geistigen Ausrichtung auf das Jetzt bereits vor Tausenden von Jahren ein zentrales Werkzeug zur Entwicklung des menschlichen Geistes war. Die moderne Variante der Achtsamkeit als effektive Methode zur Stressreduktion zu nutzen, ist sicher eine weitere außergewöhnliche Erkenntnis, auch wenn die spirituelle Basis dabei verloren gegangen ist.
Kleine Philokalie
Eine kleine Auswahl aus dem mehrbändigen Werk bietet das Buch „Kleine Philokalie: Betrachtungen der Mönchsväter über das Herzensgebet“, übersetzt von Matthias Dietz. Die Sammlung führt auf verständliche Weise in die Geisteswelt der Mönchsväter des Nahen Ostens und in das Herzensgebet ein. Die Anweisungen werden von dem Herausgeber immer mit den eigenen Worten des jeweiligen Schriftstellers wiedergegeben.
Kleine Philokalie
Betrachtungen der Mönchsväter über das Herzensgebet
2. Auflage 2013
Hardcover
224 Seiten
ISBN/EAN 978-3-8436-0481-9
18 Euro
Ein Artikel von
Freie Autorin, Text, Lektorat
Hegede 6
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