Es ist nicht egal, wie wir geboren werden
Risiko Kaiserschnitt
Michel Odent, französischer geburtshilflicher Arzt, arbeitete lange Zeit in einer Klinik in Pithiviers in der Nähe von Paris als Chirurg. In dieser Zeit beschreibt er die Entwicklung des Kaiserschnitts von der Not-Operation zur scheinbar risikolosen Alternative zur vaginalen Geburt, die immer mehr an Beliebtheit gewann. Offensichtlich sind ihm mit der Zeit Bedenken gekommen.
Er begann Konzepte für eine „sanfte Geburt“ (nach Frederic Leboyer) weiterzuentwickeln, die auf der Erforschung der natürlichen Bedürfnisse von Schwangeren und Gebärenden beruhten. Das führte zu einer extrem niedrigen Kaiserschnitt-Rate. 1987 gründete er das Primal Health Research Centre in London. Dort wird der Einfluss vorgeburtlicher Erfahrungen auf die Gesundheit erforscht.
Förderung der Säugetier-Natur
Seine Bedenken gegen bedenkenlose Kaiserschnitte und die technisierte Entwicklung der „modernen“ Geburtshilfe haben sich leider bestätigt. Seine Schlussfolgerung: „Es ist nicht egal, wie wir geboren werden“. Er suchte nach Ursachen für die stetig steigende Kaiserschnitt- und Komplikationsrate. Er fand sie, und er fand auch Lösungen – die sich leider bis heute nicht bzw. kaum durchgesetzt haben.
Welche Ursache fand er?
Es war die Tatsache, dass zwar die Technik erforscht und gefördert wurde, dass aber die Säugetier-Natur der Menschenfrauen und deren Bedürfnisse beim Gebären - und auch schon in der Schwangerschaft - immer weniger beachtet wurden und werden.
Worin bestehen die Bedürfnisse der Säugetier-Natur?
In einer natürlich verlaufenden Geburt gelangen die Gebärenden in den natürlich sich entwickelnden Zustand der Geburts-Trance. Er beschreibt diesen Zustand als „wie auf einem anderen Planeten“, in dem alle Hemmungen erlernten Verhaltens fallen. Einen Zustand, in dem die Frau instinktiv alles tut, alle Bewegungen macht, Stellungen einnimmt, Töne von sich gibt, die eine komplikationslose, zügige Geburt ermöglichen. Der instinktive Gehirnteil fördert das Gebären, der rationale Gehirnteil stört es. So einfach ist das.
Welche Regeln für die Geburtsbegleitung leitet er daraus ab?
Die wichtigste Regel: „Stören verboten!“ Einer Frau, die ihn um Rat fragte, wie sie beim zweiten Kind einen weiteren Kaiserschnitt vermeiden könnte, riet er Folgendes: „Schließen Sie sich im Badezimmer ein und lassen sie niemanden rein, nicht einmal die Hebamme. Dann geht alles gut“. Sie folgte seinem Rat, und der Erfolg gab ihm Recht.
Was genau bedeutet „Stören verboten“?
- jede Form von rationaler Sprache, insbesondere FRAGEN
- helles Licht
- beobachtet werden.
Moderne Hebammen, die gesetzlich verpflichet sind, Beobachtungen mittels Geräten zu machen und diese zu dokumentieren, bezeichnet er als „Gefangene des Systems“. Seine Forschungen zeigen, dass die EINZIGE signifikante Auswirkung der CTGs, der Geräte, die Herztöne des Kindes und Wehentätigkeit messen und aufzeichnen, die Steigerung der Kaiserschnitt-Rate war und ist.
Auch die heute übliche Anwesenheit des Vaters bei der Geburt betrachtet er kritisch. Auch sie bringt er mit der steigenden Kaiserschnittrate in Verbindung. Nämlich dann, wenn sie die Ausschüttung von Stresshormonen bei der Gebärenden auslöst. Seine Faustregel lautet: Zivilisatorische (spezifisch menschliche) Bedürfnisse ausschalten; alle Säugetier-Bedürfnisse erfüllen.
In den meisten ärztlichen Vorsorge-Untersuchungen sieht er einen „Nocebo-Effekt“ – eine schädliche Auswirkung der Sorge, in die die Schwangere unnötig versetzt wird, denn die Ergebnisse verunsichern nur, bewirken aber kaum Nützliches. Z.T. beruhen sie auch auf falschen Annahmen, wie z.B. die Eisenwerte, Blutdruck-Messungen, Glukose-Toleranz-Tests, die zur Pathologisierung natürlicher Veränderungen in der Schwangerschaft führen. Die mechanischen Maßnahmen zur Verhinderung von Frühgeburten betrachtet er als nicht sinnvoll. Dagegen bezeichnet er das gemeinsame Chor-Singen von Schwangeren und Personal in Pivithier als ausgesprochen förderlich.
Seine einzige Empfehlung an geburtsbegleitende Personen ist es, „auf Empfehlungen zu verzichten.“
Seinen Recherchen zufolge benötigen Gebärende nur wenig: Das Gefühl von Geborgenheit, das Gefühl, weder beobachtet noch beurteilt zu werden. Sie brauchen Ungestörtheit statt Unterstützung. Das Angebot von „Unterstützung“ suggeriert, dass eine Frau nicht ohne fremde Hilfe erfolgreich gebären kann.
Was wünscht sich Michel Odent von einer Doula?
Wir müssen „dem Phänomen Doula verstärkt Beachtung schenken“, schreibt er. „Wenn die Doula eine Mutterfigur darstellt, auf die sich die junge Frau während der Geburt verlassen kann, wird dieses Konzept der Geburtsbegleitung eine Menge zur Wiederentdeckung der echten Hebammenkunst beitragen.“ Der Schwerpunkt der Ausbildung einer Doula sollte auf ihrer Ausstrahlung und Persönlichkeit liegen, statt nur auf der Vermittlung von Wissen, von Techniken und Methoden.
Revolutionär sind Odents Ansichten zu den gesellschaftlichen Zusammenhängen zwischen gestörter und ungestörter Geburt. Er hat recherchiert, dass fast alle Gesellschaften rituell den ersten Kontakt zwischen Mutter und Kind stören – auf sehr verschiedene Art und Weise. Seine Schlussfolgerungen: Störungen dieses ersten Kontaktes, das Verweigern der Vormilch z.B., fördern das aggressive Potenzial der Gesellschaft statt ihrer Liebesfähigkeit.
Natürlich fördert ein aggressives Potenzial einer Gesellschaft das Überleben in einer aggressiven Umgebung. Von daher haben sich diese Praktiken durchgesetzt und verbreitet. Heute könnte diese Förderung des aggressiven Potenzials zu einer globalen Zerstörung führen.
„Die Ergebnisse aus dieser Gruppe von Untersuchungen (Erforschung der Primärgesundheit) lassen darauf schließen, dass die Umstände unserer Geburt lebenslange Folgen haben“. Odent bringt „geburtshilfliche“ Störungen des Gebärens in einen engen Zusammenhang mit Verhaltens-Störungen bei Kindern und Jugendlichen. „Die Befunde unserer Datenbank zeigen, dass bei Menschen, die eine beeinträchtigte Liebesfähigkeit zeigen – sei es in der Liebe zu sich selbst oder in der Liebe zu anderen -, stets Risikofaktoren bei der Geburt nachzuweisen sind.“
Odent stellt die Wichtigkeit ungestörter natürlicher Geburten sogar in einen Zusammenhang mit dem Überleben der Menschheit, unseres ganzen Planeten. Er hält die Menschheit für bedroht durch „Exzesse der Rationalität“. Er schreibt: „Ein höheres Maß an Vernunft wäre nicht bedrohlich, wenn es durch eine gesteigerte Liebesfähigkeit und den Willen zum Leben ausgeglichen würde.“
Er fragt am Schluss: „Kann die Menschheit den gefahrlosen Kaiserschnitt überleben?“
Mein Fazit: Ja, wenn Geburten – z.B. von Doulas – liebevoll begleitet statt instrumentell geleitet werden. Wenn wir Frauen ermöglichen, machtvoll zu gebären, statt sich machtlos entbinden zu lassen. Denn es ist NICHT egal, wie wir geboren werden. Denn ein Kaiserschnitt ist NICHT gefahrloser als eine natürliche, ungestörte, gut beschützte Geburt, wie sie im meditativen Zustand der natürlichen, beglückenden Geburts-Trance erlebt werden kann. So, wie sie von Mutter Natur vorgesehen ist.
Michel Odent
Es ist nicht egal, wie wir geboren werden – Risiko Kaiserschnitt
Mabuse-Verlag 4. Auflage 2021
ISBN 3863212428
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Ein Artikel von
Cora Brandt
33803 Steinhagen
Falkenstr. 21
corabrandt@aol.com
http://www.cora-brandt.de
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