Inflationäre ADHS-Diagnosen

Erschreckende Zahlen & Verschreibungen

2. Dezember 2023 von Rudolf Hege

Inzwischen gelten weltweit 5% aller Kinder als von ADHS betroffen, so die offizielle Statistik. Und der am häufigsten verordnete Wirkstoff ist Methylphenidat (Handelsnahmen Ritalin®, Medikinet ®, Concerta ®), eine Psychostimulanz.

Zum Thema ADHS gibt es viele offene Fragen. So gehen Fachleute davon aus, dass es viele Fehldiagnosen gibt, da keineswegs alle Diagnosen von Fachmedizinern nach entsprechenden Tests gestellt werden. Oft ist der Hausarzt der Diagnostiker, der den Forderungen der Eltern (oder der Lehrer) nachgibt, „etwas zu tun“, damit das Kind in der Schule besser zurecht kommt.

Wenig kinderfreundlich: der Schulalltag

Der Schulalltag vieler Kinder ist geprägt durch körperliche Untätigkeit. Stundenlanges Sitzen in einer Entwicklungsphase, die typischerweise mit erhöhtem Bewegungsdrang verbunden ist, spielt in der Entwicklung von „ADHS“ eine große Rolle. Und nach der Schule steht nicht etwa Toben auf dem Plan, wie es früher üblich war, sondern Hausaufgaben und anschließend Computern und Fernsehen. Wen wundert es da, dass Kinder mit „Hyperaktivität“ reagieren?

Auch stellt sich die Frage, ob die verordneten Mittel wie Ritalin® überhaupt helfen. Die Cochrane-Foundation, eine internationale Vereinigung von Medizinern und Statistikern hat die vorliegenden Studien geprüft und kommt zu dem Schluss, dass Ritalin & Co. den Kindern nicht sehr helfen. Allenfalls gibt es in der Wahrnehmung von Lehrern eine leichte Verbesserung – die Kinder wirken ruhiger. Dem gegenüber stehen die potentiellen Nebenwirkungen, wie ein Blick auf den offiziellen „Beipackzettel“ offenbart: https://www.apotheken-umschau.de/medikamente/beipackzettel/methylphenidat-hexal-10-mg-tabletten-2744710.html

  1. Aggression
  2. Angst
  3. Depression
  4. Haarausfall
  5. Kopfschmerzen
  6. Erbrechen
  7. Nervosität
  8. Schlaflosigkeit
  9. Schwindel
  10. unwillkürliches Zittern
  11. Veränderungen von Blutdruck und Herzfrequenz

Zu möglichen Risiken der Langzeitanwendung ist laut Cochrane keine fundierte Aussage möglich. Denn die ausgewerteten Studien dauerten im Schnitt nur 28,8 Tage. Novartis weist unter anderem auf folgende schwere Nebenwirkungen hin, die im Zusammenhang mit Ritalin berichtet wurden:

  1. Halluzinationen
  2. Herzinfarkt
  3. Leberfunktionsstörungen
  4. Migräne
  5. Nervenausfälle
  6. psychotische Störungen
  7. Suizid
  8. Tics
  9. vermindertes Wachstum

Dieses besorgniserregende Nebenwirkungsprofil muss sehr sorgfältig gegen den eher geringen Nutzen der Ritalinbehandlung abgewogen werden. Viele Patienten beziehungsweise deren Eltern brechen die Therapie vorzeitig ab.

ADHS-Ursachen finden statt Symptome behandeln

Es gibt durchaus – verträglichere – Alternativen. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass „ADHS“ ein Etikett ist und keine Ursachendiagnose. Anders gesagt, wenn ein Mensch ein bestimmtes Verhalten zeigt, dann bekommt er die „Diagnose“ ADHS übergestülpt. Die Frage, WARUM er das Verhalten zeigt, wird damit aber nicht beantwortet. Gerade die Ursachenfrage ist aber sehr wichtig. Beispielsweise kann ein Ungleichgewicht im Bereich der ungesättigten Fettsäuren „ADHS“ begünstigen. Beseitigt man dieses Ungleichgewicht, was recht einfach zu bewerkstelligen ist, dann reduziert sich auch die Symptomatik. Aber natürlich nur bei denjenigen, bei denen diese Fettsäure-Dysbalance vorliegt. Es kommt also darauf an, herauszufinden, was im Einzelfall(!) die Probleme verursacht: Stoffwechsel? Störung der Neurotransmitter? Familiärer Stress? Bewegungsmangel? Unterforderung? Nahrungsunverträglichkeiten?

Was ist auffällig? Und was normal...?

Eine eher philosophische Frage ist, ob wir heute nicht dazu neigen, auch kleinere „Verhaltensauffälligkeiten“ zu pathologisieren. Viele bekannte Geister, wie Leonardo Da Vinci, Albert Einstein oder Herrmann Hesse, waren – vermutlich – nach heutiger Definition ADHS-Betroffene. Gäbe es ihre Werke auch, wenn sie „behandelt“ worden wären? Auch der Radfahrer Jan Ullrich oder der „Kabarett-Arzt“ von Hirschhausen zeigen, nach eigener Aussage, ADHS-Symptome.

Dr. Eckart von Hirschhausen schrieb über sich selbst: (Zitat) „Heute keine Kolumne. Sondern ein Bekennerbrief zur Aufmerksamkeitsstörung – Attention deficit disorder. Nicht verbunden mit Hyperaktivität, nur im Kopf. Ich hab das. In milder Form. Und ich lebe sehr gut damit. Ich lebe sogar davon. Denn ohne meine sprunghafte Aufmerksamkeit wäre ich nie Komiker geworden. Und viele meiner Komikerkollegen auch nicht [...] 'Das Reh springt hoch, das Reh springt weit – warum auch nicht, es hat ja Zeit!'. Komik springt um die Ecke. Und um auf so etwas zu kommen, braucht man eine gelockerte Assoziationsfähigkeit. Ist sie viel zu locker, landet man in einer Geschlossenen, ist sie aber nur ein bisschen locker, lockert der Umgang damit andere auf, sie lachen und sind sehr dankbar dafür. Und man selbst auch, denn zum Schalterbeamten hätte man es nie im Leben bringen können [...] Schwer haben wir geistig Hyperaktiven es nur, wenn etwas ernsthaft von uns verlangt wird: still sitzen, über Stunden uns mit nur einem Thema beschäftigen oder aber übers Leben mit nur einem Job oder Partner. Das Schwerste ist Pläne einhalten. Pünktlich abgeben oder abheben“… (Zitat Ende. Quelle Wikipedia).

In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Geschichte der gefeierten britischen Choreografin und Tänzerin Gillian Lynne. Sie wurde 92 Jahre alt und starb im Jahre 2018. Neben vielen anderen Werken choreographierte sie auch die Tanzszenen des Musicals „Cats“. Sie wurde von der britischen Queen für ihre Verdienste in den Adelsstand erhoben.

Aber fast wäre der Welt dieses Talent entgangen, denn Gillian hatte große Probleme in der Schule. Sie konnte sich nicht gut konzentrieren, zappelte herum – und brachte schlechte Noten nach Hause. Daher sollte sie auf eine „Sonderschule“ gehen – für Lernbehinderte. Ihr Glück war, dass ein Psychologe, der sie begutachten sollte, die richtige Intuition hatte. Er erkannte, dass Gillian nicht krank war, sondern, dass sie sich einfach gerne bewegte. „Ihre Tochter ist nicht krank,“ sagte er den Eltern, „sie ist eine Tänzerin“. So kam Gillian nicht auf eine Sonderschule, sondern in eine Tanzschule. Der Rest ist Geschichte. Wie viele Talente werden nicht erkannt, weil wir erwarten, dass alle in die „Norm“ passen?

Aber, wie gesagt, das ist eine philosophische Frage.

Ein Artikel von
Rudolf Hege

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