Die dunkle Nacht der Essstörung
Heilnetz-Thema des Monats: Dunkelheit
Es gibt Phasen im Leben, da geht das Licht aus. Langsam und unaufhaltsam verschwindet die Sonne am Horizont und es wird dunkel. Für Wochen, für Monate, ja, manchmal sogar für Jahre.
Es sind die Zeiten, in denen gar nichts mehr geht. In denen jegliche Kraft fehlt, um irgendwas zu tun, in denen nichts so richtig gelingt und in denen es düster geworden ist. Und für so manche Frau verschwindet mit dem Licht auch der Appetit. Dann bekommen sie keinen Bissen mehr hinunter, die Kehle ist wie zugeschnürt und sie werden dünner und dünner. Oder aber sie werden immer wieder von Fressanfällen überrannt, deren Inhalt sie dann im Anschluss über der Kloschlüssel entleeren. Wer sich inmitten solch einer Dunkelheit in Kombination mit einer Essstörung befindet, wünscht sich so oft, beides würde verschwinden.
Unendlich scheint die Finsternis – ohne Ende. Denn alle Essenspläne und alle verzweifelten Versuche, das eigene Essverhalten unter Kontrolle zu bekommen, funktionieren nicht. Es ist einfach nur unendlich dunkel.
Doch für diese Frauen gehört diese dunkle Nacht der Essstörung zu ihrem Leben dazu. Sie will da sein und hat ihren Sinn. Es braucht diese Phase für eine ganz, ganz tiefe, allumfassende Wandlung. Und die Botschaft, welche die Essstörung mit sich bringt, lässt sich nur in der Stille der Nacht erkennen.
Wenn die Nacht beginnt
Mit jeder Stunde, mit der die Sonne verschwindet, wird es leiser. All das Laute, das Tosende und des Verlockende des Tages funktioniert immer weniger und es wird dunkel. Was übrig bleibt, sind die Verzweiflung, dass das Essverhalten nicht in den Griff zu bekommen ist und eine lange Nacht, die nun vor den Betroffenen liegt.
So schrecklich sich das erst einmal anfühlen mag – es ist gut so.
Denn mit der Finsternis kommt auch die Mondin. Diese möchte einladen, all das, was am Tag als so wahr und so unabänderlich galt, in ihrem hellen Schein zu betrachten. Sanft und behutsam durchflutet sie die Dunkelheit und wirft auf einmal ein ganz anderes Licht auf die Dinge.
Es ist an der Zeit, um vieles zu hinterfragen und um zu erkennen, warum das, was den ganzen Tag über so gut funktioniert hat, auf einmal nicht mehr klappt. Ganz behutsam beginnt der Prozess der Wandlung: verschobene Bilder werden aufgedeckt, Projektionen hören auf zu funktionieren, Illusionen wollen zerfallen und Glaubenssätze, die für so lange als richtig galten, verlieren ihre Macht. So vieles wird auf einmal unwichtig und nichtig.
Es gilt also, nicht nur auf der Stufe des Essens stehen zu bleiben, sondern zu schauen, was dahinter steckt. Nun, inmitten der Nacht ist Gelegenheit, um tiefer einzutauchen. Im Schein der Mondin kann alles in Ruhe angeschaut und überprüft werden. Sie ist da und hilft, mit ihrem magischen Licht alles zu durchleuchten und aufs Genauste zu überprüfen. Damit all das, was keine Bedeutung mehr hat, nun zerfallen und gehen kann.
Am tiefsten Punkt der Nacht
Doch irgendwann geht auch die Mondin und es wird wirklich dunkel. Die lange Nacht steuert auf ihren tiefsten Punkt zu. Auf einmal ist nichts mehr da an Licht, an Orientierung. Der letzte Halt geht verloren. Und es ist einfach nur noch stockfinster. Und oftmals geht mit diesem letzten Licht der Mondin auch die Hoffnung. Es scheint, als ob die Dunkelheit niemals enden wird.
Das ist ein ganz sensibler Moment. Voller Berührbarkeit. Und voller Verletzbarkeit.
Auch dieser Moment gehört zu der langen, dunklen Nacht dazu. Er ist einfach da und ist ein Teil eines unbeschreiblichen Wandlungsprozesses.
An dem Punkt der Nacht, der am kältesten und am düstersten scheint, passiert etwas ganz Entscheidendes: Das Alte will endgültig enden. Die Dunkelheit nimmt all das, was überflüssig geworden ist, in sich auf und trägt es mit sich fort. Es hatte seine Zeit und war wichtig gewesen. Aber nun stört es nur noch. Wie wichtig es doch ist, auch diesen Moment des endgültigen Loslassens zuzulassen.
Auch die längste Nacht geht irgendwann zu Ende
Und wenn das geschehen, entsteht Raum, dass etwas Neues anbrechen kann.
Denn an dem Punkt, wo die Nacht am Tiefsten ist, ist der Tag am Nähsten. Genau dann, wenn die Dunkelheit so allumfassend und so überwältigend geworden ist, dass sie alles verschluckt, wird aus ihrer Mitte heraus der neue Tag geboren. Sobald der tiefste Punkt der dunklen Nacht „Essstörung“ überschritten ist, bricht wie aus dem Nichts heraus etwas Neues an. Ein neuer Tag will beginnen. Und mit ihm kehrt das Licht zurück.
Erst langsam und zaghaft, dann immer deutlicher und unübersehbarer wird es heller. Mit jeder Stunde, die vergeht, gewinnt der heranbrechende Tag an Kraft und Stück für Stück wächst das Neues heran. Und mit den Sonnenstrahlen, die sich immer mehr zeigen, kehrt die Hoffnung zurück.
Und auf einmal normalisiert sich das Essverhalten. Ganz von alleine und ganz einfach. Ohne Anstrengungen und ohne Mühen. Nun, da all das Alte und das Belastende mit der Dunkelheit von dannen ziehen konnte, wird die Essstörung überflüssig und verschwindet. Ein Moment, der für viele Betroffene überhaupt nicht vorstellbar ist.
Doch das Licht wird weiterhin kräftiger und heller. Ein Tag, der schöner und vollkommener werden will als der letzte, der zu Ende gegangen ist. Ein Tag, der Glück und Freue mit sich bringt. Und ein Tag, der einfach nur dankbar sein lässt, dass vor ihm die dunkle Nacht mit ihrer Essstörung lag. Denn ohne diese hätte der neue Tag mit seinem strahlenden Licht nie anbrechen können.
Ein Artikel von
Dorothea Ristau
01307 Dresden
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Profil von Dorothea Ristau
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