Ist Evidenz basierte Medizin gut?

Kommt drauf an...

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27. Mai 2022 von Rudolf Hege

Seit einigen Jahren hören auch Laien öfter den Begriff der „Evidenz-basierten Medizin EBM“ (evidence based medicine). Auch unser Gesundheitsminister Karl Lauterbach wird nicht müde, hervorzuheben, wie wichtig es ist, dass die Medizin evidenz-basiert ist. Vor allem bei der Verunglimpfung alternativer Methoden wird gerne behauptet, diese wären nicht „evidenz-basiert“, also nicht ausreichend belegt.

Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff der EBM? Die (gute) Grundidee dabei ist es, dass Methoden und Aussagen aufgrund von Studien und Belegen verifiziert werden – und nicht ausschließlich aufgrund der Aussagen einzelner Menschen, deren Motive man nicht überprüfen kann (Evidenz by Eminence). Also nicht, weil Professor Maier oder die Firma Huber sagt, eine Therapie sei gut, sondern weil entsprechende überprüfbare Beweise dafür vorliegen, für die es bestimmte Kriterien gibt.

Vom Wert der Erfahrung...

Zur Evidenz gehören zwar auch die Erfahrungen und Berichte von Therapeuten und Patienten, aber die „höchste“ Stufe ist die kontrollierte Studie, an die hohe Anforderungen gestellt werden (beispielsweise Auswahl der Versuchsteilnehmer nach dem Zufallsprinzip, Doppelverblindung (weder Patienten noch Therapeuten wissen, ob sie ein Placebo bekommen oder den zu testenden Wirkstoff) usw.) Damit will man subjektive Einflüsse weitgehend ausschalten.

Soweit so gut. Nun ist es leider eine uralte Erfahrung, dass Menschen, die etwas wollen, immer auch einen Weg finden werden, es zu bekommen. Für Anbieter von Therapien und Medikamenten ist die EBM natürlich lästig, kann man doch nicht einfach etwas behaupten, um es auf den Markt zu bringen, sondern man muss seine Aussagen beweisen, um eine Zulassung zu bekommen.

Vom Wert des Geldes...

Daher hat sich um das Thema EBM inzwischen eine ganze „Industrie“ entwickelt, die die gewünschten Ergebnisse liefert bzw. dafür sorgt, dass unerwünschte Ergebnisse nicht bekannt werden. Immerhin geht es in der Medizin um sehr viel Geld. Ein Großteil der Studien wird entweder von den Anbietern (Pharmaunternehmen etc.) selbst durchgeführt oder in ihrem Auftrag. Auch Forscher an Universitäten sind meist auf Geld der Unternehmen angewiesen, um teure Studien durchführen zu können. Das macht anfällig für Einflussnahmen der Geldgeber. Welcher Forscher riskiert schon gerne zukünftige Aufträge indem er, für den Hersteller ungünstige, Ergebnisse produziert?

Das international hoch angesehene „British Medical Journal (BMJ)“ veröffentlichte dazu folgenden Beitrag, den ich hier auszugsweise zitiere. Hier das englischsprachige Original.

Zitat: „Die evidenzbasierte Medizin wurde durch Unternehmensinteressen, fehlgeschlagene Regulierung und Kommerzialisierung der akademischen Welt korrumpiert, argumentieren diese Autoren:
Die Einführung der evidenzbasierten Medizin war ein Paradigmenwechsel, der die Medizin auf eine solide wissenschaftliche Grundlage stellen sollte. Die Gültigkeit dieses neuen Paradigmas hängt jedoch von zuverlässigen Daten aus klinischen Studien ab, von denen die meisten von der Pharmaindustrie durchgeführt und im Namen hochrangiger Akademiker veröffentlicht werden. Die Freigabe zuvor vertraulicher Dokumente der pharmazeutischen Industrie an die Öffentlichkeit hat der medizinischen Gemeinschaft wertvolle Einblicke in das Ausmaß gegeben, in dem von der Industrie gesponserte klinische Studien falsch dargestellt werden. Solange dieses Problem nicht behoben ist, wird die evidenzbasierte Medizin eine Illusion bleiben.“
Zitat Ende.

Vom Wert der Manipulation

Negative Studienergebnisse werden von den beauftragenden Unternehmen häufig unterdrückt, während positive Ergebnisse ebenso häufig übertrieben günstig dargestellt werden. Eine erfolgreiche Studie ist für ein Unternehmen aus dem Bereich Pharma oder Medizintechnik die beste Werbung. Die Ergebnisse werden in Fachzeitschriften publiziert und beeinflussen das Verordnungsverhalten der Ärzte und die Bereitstellung für die gesetzlich Versicherten. Wer es schafft, sein Produkt bei den Kassen gelistet zu bekommen, hat die Lizenz zum Gelddrucken, denn er wird sein Produkt millionenfach verkaufen können – und das über lange Zeit.

Es ist naiv zu erwarten, dass die gleichen Menschen, die mit etwas Geld verdienen wollen, „objektiv“ darüber berichten sollen, wie gut ihr Produkt wirklich ist. Das gilt grundsätzlich für alle Bereiche, auch für „alternative Medizin“, wo es auch genügend „Wundermittel“ gibt, die mit märchenhaften Geschichten vermarktet werden und die Taschen der Verkäufer füllen.

Vom Wert der Neutralität

Die Autoren des BMJ-Beitrages schlagen als Lösung vor, die Durchführung von Studien aus den Händen der Anbieter zu nehmen und vor allem dafür zu sorgen, dass es keine finanziellen Verflechtungen zwischen den Herstellern und denjenigen gibt, die für Empfehlungen und Zulassungen der Produkte verantwortlich sind. Derzeit sitzen beispielsweise in den Kommissionen, die Leitlinien für Ärzte erarbeiten, also Empfehlungen für sinnvolle Therapien, viele Experten, die gleichzeitig finanzielle Zuwendungen von den Unternehmen erhalten, deren Produkte sie beurteilen sollen.

Ein Artikel von
Rudolf Hege

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