Kleine Reflektion einer Pilgerreise
Pilgern in Indien
Indien in seiner Strukturlosigkeit, seiner Willkür, seiner Langsamkeit, aber auch in seiner Herzlichkeit, Wärme und Entspanntheit. No system in the madness, but flow. Will heißen, in dem ganzen Chaos ist nirgendwo eine zielgerichtete Logik zu erkennen, aber es fließt und führt meist ganz anders als erwartet zum Ziel. Kreativ eben. Der Verkehr ist ein reines Wunder und demonstriert die komplette Resistenz der Inder gegen jeden Versuch von Regulierung einmal mehr. Verrostete Schilder am Straßenrand bitten darum, die Fahrbahnen zu respektieren - kein einziger hält sich daran. Für einen Europäer zunächst äußerst verwirrend, wäre da nicht dieser unterschwellige Sog der Hingabe an das, was nun mal ist.
Seelen-Erkenntnis durch Toleranz
Diese Haltung der Toleranz und der Nicht-Intervention in den Fluss der kleinen Alltags-Welt ist effektiv ein Tor zu einer Seelen-Erkenntnis, welche einem unendlichen Raum schenkt. Da zerfällt alles Reklamieren, das Gestörtsein im Kleinen, in die Unbedeutsamkeit.
Ich erfahre Indien als die Wiege der Spiritualität, die große Mutter, die schützend ihre Arme ausbreitet und uns liebevoll an die warme Brust drückt. Die Strukturlosigkeit im Aussen ließ mich ohne den gewohnten Halt vieler Regulierungen und Ordnungen stetig und sanft ins Innere gleiten.
Ein Teilnehmer des Retreats, bei dessen Ankunft ich mir nicht sicher war, ob er es länger als eine Woche aushalten würde, sagte mir, dass er inmitten dieses Verkehrs-Chaos in Vrindavan urplötzlich eine tiefe Ruhe in sich verspürte. Ein Schritt des Fallenlassens eröffnete augenblicklich eine ganz neue Einsicht. Einlassen wird hier zur Selbstverständlichkeit, wo sonst Misstrauen, Zweifel und Rechthaberei normalerweise das Zepter schwingen.
Veränderungen von innen im Außen
Die heiligen Namen führen liebevoll ins wirkliche Innere, ins wirkliche Vrindavan, welches sich gerade unterhalb alles Sichtbaren, des indischen Durcheinanders, befindet, ein.
Ebenso zart wie scheu und sich augenblicklich wieder verschließend, wenn ich den kurzen Augenblick des Nicht Eingreifens durch den Versuch des Festhaltens wieder zunichte mache. Nur in der Stimmung aufrichtiger Hingabe an das Grosse, an Gott, an Radha-Krishna, kann der Heilige Name im Herzen aktiv werden.
In Vrindavan wird uns immer wieder das sichtbar, was im Westen versteckt wird. In der Intensität der Ausrichtung auf die spirituelle Welt, auf die Kunjas von Vrindavan, welche nur in einer Haltung gänzlicher Selbstlosigkeit verständlich werden, wird uns wirklich bewusst, wie sehr wir uns an die Haltungen der Gottesabwendung, das heisst an tiefes Misstrauen und Gleichgültigkeit, gewöhnt haben. Man nimmt da stark die selbstzentrierte Denkweise wahr. „Was nützt mir das und jenes?“ Wo dieser religiöse Materialismus, die spirituelle Lohnspekulation, noch agiert, ist das Verständnis von Gottesliebe & Bhakti verunmöglicht.
Die kontemplative Übung der Zuflucht in die Heiligen Mantras lässt dieses sich selbst rechtfertigende Tun des bedingten Ichs überflüssig erscheinen. In diesem Moment blicke ich, nicht einfach wieder so zu tun, als hätte man den kleinen Lichtblick nicht gesehen. Dieser lässt nämlich alles gänzlich neu erscheinen.
Es war sehr heilsam, solche Einblicke in Klarheit zu erhalten. Doch dafür muss ich mich zeigen, dafür muss ich handeln, immer und immer wieder.
Yoga ist der Pfad, alle Ichgedanken an ihren Ursprung zurück zu begleiten, um da als dessen einzigen Ursprung die Ur-Sehnsucht in aller Klarheit zu erkennen. Sie in der Liebe zum wahren Selbst, in Beziehung zum Ishtadeva zu sehen.
Diese Erkenntnis enthält die Essenz jeglicher Befreiungslehren. Alle Fragen, die den Tiefen der menschlichen Seele entspringen, münden letztlich in: Wer ist göttliche Liebe? Wie ist göttliche Liebe? Wie kann ich sie leben, fühlen und schenken?
Liebe ist nicht das Ausströmen einer Sehnsucht nach anderen Wesen in der hiesigen Welt, sondern sucht als erstes immer das göttliche, um sich dann von diesem Zielobjekt aller Liebe präferenzlos auf alle Lebewesen hin zu ergiessen.
Wahrheit ist die bewusst in der Seele angenommene Bereitschaft, alles um einen herum in Bezug dazu zu setzen.
Wenn man glaubt, irgend einen zusätzlichen Belang lösen zu müssen, dann trägt exakt dieser Glauben nur zur Aufwühlung der Gedanken bei.
Deshalb können keine anderen Fragen je mehr Essenz beinhalten als diese.
Dankbar, dass ich Raum nehmen durften, diese Fragen zu stellen.
Eine Erfahrung der Gnade
Mit viel Gnade und innigen Eindrücken im Gepäck meines Herzens, erschien es einem manchmal, als wäre die Kapazität des Fassbaren schon längst überschritten. Und das darf so sein, es ist erwünscht ! Hier sammelten wir keine Informationen mehr, die dem Verstand noch irgendwie dienlich sein können. Der Verstand hatte sich der Führung des Herzens übergeben. Zuerst zögerlich, doch dann spürbar entspannter. Spürbar in Frieden mit dem, was ist. Mit den Ohren trinkend, mit den Füssen betend, Schritt für Schritt. Die wohlmeinende Liebe der Sadhus annehmend...
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