Konstruktiver Journalismus

Scheiße plus X

26. April 2022 von Conny Dollbaum-Paulsen

Wer denkt, dass eine Journalistin, die weder Nachrichten schaut, hört oder liest, keinen guten Job machen kann, irrt. Die Journalistin und Autorin Ronja von Wurmb-Seibel hat ein Buch darüber geschrieben, wie die vornehmlich schlechten Nachrichten, die die meisten Menschen nicht nur Tag für Tag, sondern Stunde für Stunde konsumieren, unser Leben verändern. Und zwar nicht unbedingt zum Guten.

Nachrichten sind nicht nur Geschichten, sondern Waffen: Jede Kriegsgeschichte ist Teil des Krieges, jedes grausame Bild, das geteilt wird, verstärkt den Horror, das Unbehagen. Und: Nachrichten bilden niemals die Realität ab, sondern zeigen einen kleinen Ausschnitt, leider meist einen negativen. Die politisch sehr engagierte Journalistin hat während ihrer mehrjährigen Arbeit in Kabul eine sozusagen lebensverändernde Erfahrung gemacht: Sie konnte es zunehmend schlechter aushalten, ihren Blick ausschließlich auf das Negative zu richten. Sie wollte berichten, aber nicht wie gewohnt. Sie wollte auf keinen Fall dazu übergehen, den Horror auszublenden, also ausschließlich positiv zu schreiben, wie es im Positiven Journalismus üblich ist. Ihre Lösung hieß und heißt bis heute: Im Horror den manchmal noch dünnen aber immer vorhandenen positiven und darin ermutigenden Faden zu finden und darüber zu berichten.

Scheiße plus X

Diese Formel begleitet ihre Arbeit seitdem und zum Glück gibt es großes Interesse bei Journalist*innen, mehr darüber zu erfahren - als Dozentin und Rednerin spricht und forscht sie darüber, wie eine Berichterstattung aussehen kann, die den Blick nicht abwendet, die also „den Scheiß“ wie Rassismus, Krieg, Unterdrückung etc. durchaus zum Thema macht, aber, hier kommt das X ins Spiel, die immer auch nach der Lösung, dem Hoffnungsschimmer sucht.

Für uns, die wir Medien konsumieren, würde das bedeuten: wir folgen nicht den reißerischen Schlagzeilen, sondern suchen konstruktive Ansätze. Wir bleiben nicht bei den verheerenden Kriegsbildern hängen, sondern schauen, wo Lösungen gesucht und gefunden werden. Online-Redaktionen wie die von Perspective Daily folgen dieem Anstaz schon lange: die ausführlichen und sehr gut recherchierten Artikel nehmen „Scheiß“ als Aufhänger und machen sich auf die Suche nach Informationen, die zu Lösungen führen könnten. Denn fast immer gibt es schon Menschen oder Gruppen, die mit demselben Dilemma konfrontiert waren und Wege gefunden haben (=X), es zu überwinden.

Das X ist die Zauberzutat, die aus der Verzweiflung führt, die ermutigt und uns verbindet mit denen, die damit bereits GUTE Erfahrungen gemacht haben. Bezogen auf den Gesundheitssektor könnte „Scheiße plus X“ bedeuten, den Blick auf die verheerenden Zustände in Krankenhäusern zu richten und dann zu recherchieren, ob es Kliniken gibt, in denen etwas anders, besser, für alle Beteiligten gesünder läuft - die gibt es auf jeden Fall und Dank Internet sind sie bei einer entsprechenden Recherche auch zu finden.

Für Lesende wie Schreibende gilt also das Gleiche: Den Blick auf das richten, was sich ändern muss UND gleichzeitig vor allem darauf, wie das gehen kann, wo das schon gelungen ist, wer damit bereits Erfahrungen hat…

Die Welt lebt in Geschichten

Wer jeden Tag mit schlechten Nachrichten überhäuft wird, kann gar nicht anders, als die Welt entweder als gefährdeten Ort zu empfinden und zu resignieren oder wegzuschauen und zu tun, als wäre nichts. Beides ist fatal für unsere moralische Integrität, beides macht krank – nicht nur uns, auch die Welt, die ja aus uns besteht.

Das Buch von Ronja von Wurmb-Seibel ist ein Weltveränderungsbuch im besten Sinn: Es zeigt, wie wir die Welt verändern, indem wir andere Geschichten erzählen und uns so gemeinsam ermutigen, eine bessere, gerechtere und gesündere Welt nicht nur zu träumen, sondern sie, Schritt für Schritt mit ganz viel X zu bauen.

Das geht. Im Buch gibt es dazu viele kleine praktische Impulse und Ideen, jede Menge Links und Infos, wo konstruktiver Journalismus schon zu finden ist.

Wer Lust hat, die Autroin selbst dazu zu hören: Interview mit Ronja von Wurmb-Seibel auf SWR1:
https://www.swr.de/swr1/swr1leute/filmregisseurin-ronja-von-wurmb-seibel-swr1leute-100.html

Ronja von Wurmb-Seibel
Wie wir die Welt sehen
Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien
Kösel-Verlag
ISBN : 978-3-466-34780-3
Taschenbuch: € 18
EBook: € 14,99

Zu bestellen direkt beim Verlag, im Buchladen vor Ort, zu finden über https://www.genialokal.de/ oder über buch7, den sozialen Online-Buchversand.

Die Autorin: Ronja von Wurmb-Seibel

Ronja von Wurmb-Seibel (*21.08.86) studierte Politikwissenschaften in München. Bevor sie sich 2013 selbständig machte, arbeitete sie als Redakteurin im Politikressort der ZEIT. Sie ist Autorin der dort erschienenen Kolumne ORTSZEIT KABUL. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.

Ronja von Wurmb-Seibel arbeitet als Produzentin und Regisseurin der von ihr und ihrem Partner NIKLAS SCHENCK gegründeten Produktionsfirma BROT + ZWIEBEL.