Nervensystem von Lina Meruane
Aufrührender Roman über Krankheit
Wie lässt sich das große Mysterium des Universums in eine Doktorarbeit packen? Vor dieser Aufgabe sieht sich die Protagonistin des neuen Romans „Nervensystem“ von Lina Meruane gestellt. Ein brillanter Roman über Krankheit, Verbannung und das, was uns verbindet.
Nervensystem - ein neuer Blick auf das Thema Krankheit
Neuere Ergebnisse wissenschaftlicher Studien in den Bereichen der Kosmologie und Neurochirurgie zeigen, dass sich Gehirn und Kosmos strukturell ähneln. Lina Meruanes Roman „Nervensystem“ bewegt sich innerhalb dieser Systeme, dem menschlichen Organismus und dem Universum. Sie schenkt uns mit ihrem Buch einen ganz frischen Blick auf das Thema Krankheit, - ein Thema, das uns alle angeht und das die chilenische Autorin nicht zum ersten Mal als Vorlage für einen Roman heranzieht.
Drei Romane, ein Thema
In ihrem wohl bekanntesten Roman „Rot vor Augen“ verarbeitete Lina Meruane ihre eigene Erfahrung mit dem Thema Krankheit. Als sie an ihrer Doktorarbeit schrieb, erblindete sie aufgrund ihres Diabetes wegen einer Blutung im Auge für zwei Monate komplett. Bereits in einem ihrer zuvor geschriebenen Bücher thematisiert sie ihre Erkrankung an Diabetes. Mit ihrem neuen Roman „Nervensystem“ greift sie erneut das Thema Krankheit auf. Doch während in ihren vorigen Romanen ausschließlich die jeweilige Protagonistin unter einer Krankheit leidet, sind in ihrem neuen Buch alle Romanfiguren von Krankheit betroffen beziehungsweise kurz davor zu erkranken. Alle leiden auf ihre Weise. Und doch ist „Nervensystem“ kein Buch über das Leiden, sondern über die Vergeblichkeit des Verlangens nach Gesundheit, Perfektionismus und immerwährendem Glück.
„In dem Maße, in dem wir akzeptieren, dass wir nicht perfekt sind, dass wir verletzlich sind, von Unsicherheit umgeben, sind wir besser auf die Situation der Krankheit vorbereitet, ohne das als eine zu große gesellschaftliche oder moralische Bürde zu empfinden“, sagt die Autorin in einem Interview. (Quelle: WDR)
Familie als komplexes System
„Nervensystem“ erzählt keine individuelle Geschichte im eigentlichen Sinne, sondern ist eine Art mythologische Fabel. Die Familie der Hauptfigur Ella könnte für alle möglichen Familien stehen und ähnelt bisweilen sowohl einem Abbild des Sternensystems als auch dem des komplexen menschlichen Organismus. Jedes Familienmitglied ist krank und kommuniziert dies.
Generationsübergreifende Traumata
Ella stammt aus einem „Land der Vergangenheit“, das an Chile erinnert, einem Ort, der unter den Folgen der Diktatur zu leiden hat und von Menschengräbern übersät ist. Heute lebt die Protagonistin in einem „Land der Gegenwart“, das an die USA erinnert. Sie studiert, lehrt und wohnt mit ihrem Partner El zusammen, ein forensischer Wissenschaftler, der in den Menschengräbern der undokumentierten Leichen wühlt, die wie ein Virus aus der Vergangenheit die Gegenwart heimsuchen.
Eine Sprache der Krankheit
Ausgehend von Metaphern wie der Doktorarbeit in Astrophysik, die für die Komplexität menschlicher Beziehungen steht, dehnt sich der Roman aus zu einer gewaltigen Prosa, deren Höhepunkt der Tod des Vaters ist. Lina Meruane widersetzt sich dem einfachen Nacherzählen von Krankheit und ihren Folgen. Vielmehr spiegelt ihre Sprache selbst das Thema Krankheit in all seinen existentiellen Facetten wider. Sie spricht die Sprache der Krankheit, während die Handlung des Romans scheinbar unberührt davon leibt. Es ist ihr besonderes Geschenk an uns Leser*innen, uns auf diese Weise behutsam mit dem Thema Krankheit als zutiefst menschliche Angelegenheit vertraut zu machen.
Eine Reise durch die Systeme
Lina Meruanes Denken ist systemisch. Wir bewegen uns mit ihr durch den weiten Kosmos, die Familie und den menschlichen Organismus. Die Kapitel sind so benannt, dass sie uns Ellas Auseinandersetzung mit den Mysterien des Universums enthüllen. Durch die Anordnung der Absätze bewegen wir uns während des Lesens in der Zeit zurück, in die Geschichte einer Familie, in der sich Traumata abzeichnen - Krankheiten, die ganze Familien und Länder befallen können, über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinaus. Selbst in den Namen der Hauptfiguren, Ella und El, die generischen weiblichen und männlichen spanischen Pronomen, klingt etwas Altes, Biblisches an, auch wenn dagegen die Kosenamen, die sich das Paar gibt, geradezu exotisch und monoton wirken: „Elektron“ und „Positron“; in Momenten der Nähe fragen sich die Liebenden, ob sie ausreichend „geladen“ seien.
Meruane trennt die Lebenden nicht von den Toten. Ihr Roman ist bevölkert von Personen, die während der Diktatur in Lateinamerika verschwanden, sowie von Migrant*innen, die auf der Suche nach einem besseren Leben starben und deren Leichen sich in Massengräbern wiederfinden.
Fazit
„Nervensystem“ ist ein aufwühlender Roman, der noch lange nach dem Lesen im Bewusstsein bleibt, führt er uns doch vor Augen, dass die Zeit nicht linear ist und der vermeintliche Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod vielleicht gar nicht existiert.
Lina Meruane
Nervensystem
288 Seiten
Gebunden, geprägt
24 €
ISBN 978-3-311-35006-4
23. Februar 2023
Lina Meruane, geboren 1970 in Santiago de Chile, lebt seit 2000 in New York. „Nervensystem“ ist ihr fünfter Roman und ist im Buchhandel vor Ort oder bei buch7, dem sozialen Online-Buchhandel, erhältlich.
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