Relaunch .17

Heilnetz-Thema im Januar: Alles auf Anfang

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9. Januar 2017

Mitte Dezember 2016: Eine Patientin fragt mich um Rat, ob sie ihren behandelnden Arzt um Verlängerung ihrer Krankschreibung bitten soll. Sie sei sich nicht wirklich sicher, da sie ja eigentlich nur erschöpft sei. Wenn sie sich die 2½ Wochen bis Weihnachten noch zusammenreißen würde, könne sie es wohl irgendwie schaffen. Schließlich müsse sie auch an ihre Kolleginnen denken, die dann schlicht und ergreifend noch mehr Stress hätten, wenn sie sich jetzt weiterhin krank melde.

Ich finde jedoch, dass ihr Gesundheitszustand eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehr als rechtfertigt. Als ich ihr meine Einschätzung mitteile, wirkt sie durchaus erleichtert – vielleicht auch darüber, dass ich ihr die Entscheidung gewissermaßen abgenommen habe. „Gut,“ sagt sie, „Sie haben wahrscheinlich recht. Dann lasse ich mich jetzt bis Weihnachten krank schreiben; die Tage zwischen den Jahren ist die Einrichtung eh' geschlossen. Und dann geht es im neuen Jahr mit frischer Kraft weiter.“

Die Luft ist raus

Szenenwechsel: Ende November 2016. Ich habe aus dem Urlaub eine üble Erkältung mitgebracht und hole mir bei einer guten Freundin eine Portion Mitgefühl ab. Davon hat sie reichlich zu vergeben, denn zur Zeit scheint ihr halber Freundeskreis erkältet zu sein, und alle brauchen ungemein lange, um sich auch nur einigermaßen fit zu fühlen. „Bin ich froh, wenn dieses Seuchenjahr vorbei ist!“ stöhnt meine Freundin.

Nochmals Szenenwechsel: 26.12.2016. George Michael ist gestorben. Natürlich werden seine wichtigsten Hits im Radio rauf und runter gespielt, und sogar während der Hauptnachrichten wird ein Kurzfeature gebracht. In diesem Jahr sind überhaupt viele Musiker gestorben: David Bowie, Leonard Cohen, Prince, um nur ein paar zu nennen, und jetzt eben auch George Michael. Wie immer äußern sich anlässlich seines Todes auch zahlreiche Promis; unter anderem wird Madonna mit den Worten zitiert: "Lebwohl, mein Freund. Ein weiterer großer Künstler verlässt uns. Kann sich 2016 nun verpissen?"

Das Neue Jahr - nur ein Konzept?

Mal wieder steht also ein neues Jahr vor der Tür. Aus dem alten Jahr ist ganz offensichtlich die Luft raus, es taugt nichts mehr. Vielleicht noch mal Rückschau halten am Ende des Jahres, aber dann: endlich Neustart. Neuanfang. Im neuen Jahr wird alles besser. Muss ja. Denn schlimmer kann's ja kaum kommen, also in politischer und gesamtgesellschaftlicher Hinsicht. Und in gesundheitlicher Hinsicht sowieso. Und überhaupt: Gab es je schlechtere Zeiten?!

Einmal abgesehen davon, dass ich mein persönliches 2016 ziemlich fantastisch fand, ist da neulich in meinem Kopf mal wieder der Gedanke aufgetaucht: Was, wenn das alte Jahr gar nichts davon mitbekommt, dass es vorbei ist?! Und woher weiß das neue Jahr eigentlich, dass es jetzt anfangen muss?!?

Die Wurzel dieses Gedankens ist schon etwas älter und reicht durchaus bis in meine Kindheit zurück. Damals hatte ich die Silvester-Geschichte in Astrid Lindgrens "Die Kinder aus Bullerbü" gelesen, wo es heißt:

„Wir pusteten die Lichter aus und stellten uns an das Fenster und schauten in die dunkle Nacht hinaus, um zu sehen, wie das neue Jahr angefahren kam. Aber wir sahen nichts. Danach tranken wir Limonade und brüllten: 'Prost Neujahr!'“

Ich erinnere mich noch an meine Verwunderung darüber, dass es es zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, offenbar noch kein Feuerwerk zu Silvester gab, mit dem man das alte Jahr verabschiedete und das neue gleichermaßen begrüßte. Woher konnte man also damals wissen, dass ein neues Jahr begonnen hatte? Allenfalls am Kalender konnte man es erkennen und an der Wanduhr, wenn sie zwölf schlug. Und vielleicht konnte man es noch durch sehr lange und intensive Beobachtung der Natur an gewissen äußeren Erscheinungen ablesen.
Aber eigentlich bleibt unser Konzept vom neuen Jahr und Neubeginn letztlich genau und nur das: ein Konzept. Und schrammt irgendwie auch haarscharf an dem entlang, was gern einmal als magisches Denken verunglimpft wird: Nur weil ein neues Jahr ins Haus steht, meinen wir plötzlich, dass jetzt alles besser, auf jeden Fall aber anders werden wird. Um als nächstes die berühmt-berüchtigten guten Vorsätze zu schmieden. Und damit immer wieder grandios zu scheitern.

Altes loslassen, um Neues entstehen zu lassen

Kurz vor Weihnachten fragte ich eine Freundin nach einem guten Rezept für Ausstech-Plätzchen. Zwar habe ich ein Rezept, aber die Plätzchen schmecken aus irgendeinem Grund recht neutral. Klar hat meine Freundin eins. Der Einfachheit halber fotografiert sie's ab und schickt es mir direkt aufs Handy. Unter den Zutaten sind unter anderem 200 g Butter oder Margarine, verschiedenste Gewürze und Mandelöl aufgelistet. Per SMS erhalte ich noch ein paar Ergänzungen, die sich in jahrelanger Erfahrung einfach bewährt haben: „Nicht ganz so viel Zucker, Gewürze etwas reduzieren, Mandelöl weglassen, aber ganz wichtig natürlich: gute Butter nehmen!!“ Logisch, denke ich, stolpere aber gleichzeitig über diesen etwas antiquierten Ausdruck und simse mit einem Augenzwinkern: „Würde man denn schlechte Butter verarbeiten wollen?!“ Prompt kommt die Antwort: „Dann isses Margarine;-)“

Ganz ehrlich: Genau so, wie ich in Frage stelle, dass der gemeine Keksverkoster im fertigen Plätzchen den Unterschied zwischen Butter und Margarine auszumachen vermag, wage ich ebenso zu bezweifeln, dass die Seuchen es mitbekommen, wenn ein neues Jahr anfängt. Dennoch ist beides gleichermaßen wichtig: die gute Butter für den runden, vollen Geschmack der Plätzchen. Wahrscheinlich eine nur winzige Geschmacksnuance, aber trotzdem unverzichtbar.
Und wenn es auch nur eine rein gedankliche, beinahe willkürliche Zäsur in der Gleichheit unserer Tage ist: Wir brauchen ebenso das Konzept des Neuanfangs zu Beginn eines jeden Jahres sowie die Idee, Altes hinter uns lassen und vergessen zu dürfen, damit Raum für Neues entstehen kann. Es braucht den weiten, offenen Horizont, um unsere Ziele in den Blick zu nehmen, die Kräfte zu bündeln und wieder auf Kurs zu kommen.