"Schlafen" von Theresia Enzensberger
Eine Reise durch die Nacht

Theresia Enzensbergers neuestes Buch "Schlafen" ist keine trockene Abhandlung. Der Essay bietet vielmehr eine faszinierende Mischung aus persönlichen Erfahrungen der Autorin sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftskritischen Beobachtungen zum scheinbar alltäglichen Thema Schlaf und Schlaflosigkeit.
Schlaflosigkeit als Spiegelbild unserer Gesellschaft
Immer mehr Menschen leiden unter Schlaflosigkeit, und gerade denen dürfte dieses Buch besonders gefallen – und sei es nur, um sich in schlaflosen Nächten nicht allein zu fühlen. Als selbsternannte "Schlaflosigkeitsveteranin" mit jahrelanger Erfahrung bietet Theresia Enzensberger einen ebenso persönlichen wie analytischen Blick auf die Welt der Ruhelosen.
Die Moralisierung des Schlafs: Ein kritischer Blick auf unsere Leistungsgesellschaft
Die Struktur des Essays gibt einen natürlichen Rhythmus vor, der sich an den verschiedenen Schlafphasen orientiert, die wir nachts mehrmals durchlaufen. In der ersten Phase, der "Leichtschlafphase", überrascht die Autorin mit einer kritischen Betrachtung der Moralisierung des Schlafs in unserer leistungsorientierten Gesellschaft. Ihre Ausführungen zur kapitalistischen Schlafoptimierung und der Verurteilung von genüsslichem Ausschlafen als Faulheit präsentieren eine verstörend frische Perspektive auf das Thema. Schlaf soll genau zur richtigen Zeit stattfinden, nicht zu viel und nicht zu wenig, sonst wird er als Faulheit oder Dekadenz abgetan.
Zwischen Marx und Feminismus: Schlaf als Quelle der Regeneration
Enzensberger greift auf ein breites Spektrum an Quellen zurück, von Marx bis zu feministischen Konzepten der Verletzlichkeit. „Eine Verletzlichkeit, die sich nicht verleugnen lässt, weil sie absolut universell ist …“. Sie argumentiert, dass Schlaf in unserer Gesellschaft oft als eine Form der Schwäche betrachtet werde, die nicht sein dürfe. Dabei sei Schlaf essenziell für unsere Regeneration und Gesundheit.
Kunst, Literatur und die Traumwelt: Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Schlaf
In der "Tiefschlafphase" verknüpft Enzensberger geschickt die vielfältigen Auseinandersetzungen von Kunst und Literatur mit dem Schlaf und beleuchtet die lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem Thema in der Kultur. Sie bezieht dabei sich unter anderem auf Marie Darrieussecq, die in ihrem Buch „Sleepless“ behauptet: „In jedem Buch, das ich öffne, geht es um Insomnie“ und lässt Kafka zu Worte kommen, der sich ebenfalls „vom Schlaf zurückgewiesen“ fühlt.
"Stallgeruch": Ein albtraumhaftes Ende mit Nachwirkungen
Der Höhepunkt des Buches ist die "REM-Phase" oder der "Traumschlaf", in der Enzensberger den Leser:innen eine unheimliche Kurzgeschichte präsentiert. Diese kreative Abweichung vom essayistischen Stil unterstreicht die Vielschichtigkeit des Themas Schlaf und zeigt Enzensbergers Vielseitigkeit als Autorin. Die kleine Erzählung "Stallgeruch" ist ein existenzieller Albtraum, in dem die Protagonistin nicht nur das Vertrauen in ihren Geruchssinn verliert, sondern auch von ihrer eigenen Familie nicht mehr erkannt und verstoßen wird.
Schlaf als soziale Frage: Ungleichheit und ihre Auswirkungen auf unsere Gesundheit
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Enzensberger betont, ist die soziale Ungleichheit im Zusammenhang mit Schlaf: Frauen sowie Menschen mit geringerem Einkommen und/oder geringerem Bildungsstand leiden häufiger unter Schlafstörungen. Schlaf ist, so die Autorin, auch eine soziale Frage, die eng mit den sogenannten "sozialen Determinanten der Gesundheit" verbunden ist.
Verletzlichkeit als Stärke: Ein Plädoyer für mehr Achtsamkeit
Mit ihrem Essay spricht sich Enzensberger dafür aus, Schlaf als eine natürliche Quelle der Regeneration zu betrachten, die es uns ermöglicht, unsere "Verletzlichkeit" anzunehmen. In einer Gesellschaft, die Stärke und Leistung glorifiziert, erscheint diese Perspektive besonders wertvoll. Enzensberger hinterfragt, warum unsere Gesellschaft so große Angst vor Kontrollverlust hat und wie wir lernen können, unsere menschlichen Schwächen nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Heilung zu betrachten.
Fazit: Ein Buch, das zum Umdenken anregt
"Schlafen" ist kein Ratgeber für besseren Schlaf, sondern eine tiefgründige Auseinandersetzung mit einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis. Enzensberger gelingt es, philosophische Betrachtungen mit ihren persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlicher Kritik zu verbinden. Besonders ansprechend finde ich ihre Überlegungen zum Schlaf als Raum der Freiheit und des Kontrollverlusts sowie zur Angst vor dem Loslassen in einer Welt, die ständige Kontrolle fordert.
"Schlafen" ist ein Buch, das uns wachrüttelt und nicht ohne Wirkung bleibt. Es ist keine leichte Lektüre für zwischendurch, sondern ein Werk, das unsere Aufmerksamkeit verdient. Alle, die gern einen frischen Blick auf ein scheinbar alltägliches Thema werfen möchten, dürften dieses Buch als Bereicherung empfinden.
Du erhältst das Buch "Schlafen" von Theresia Enzensberger in deinem Buchhandel vor Ort oder auch bei buch7.de, der Online-Buchhandlung mit sozialer Seite.
Erscheinungsdatum: 13.05.2024
112 Seiten
Hanser BerlinHardcover
ISBN 978-3-446-27962-9
Preis: 20,00 €
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Ein Artikel von
Freie Autorin, Text, Lektorat

Hegede 6
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