Achtsamkeit als Medizin?

Von Risiken & Nebenwirkungen

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16. Mai 2024 von Conny Dollbaum-Paulsen

Dem Üben von Achtsamkeit durch Meditation wird nachgesagt, dies hätte keine Nebenwirkungen. Die Wirkung sei sanft, für jeden Menschen geeignet und diene ausschließlich dem wecken aller positiven Lebensgeister. Kurz gesagt: Achtsamkeit zu üben hilft immer. Allen. Jederzeit.

Allheilmittel Achtsamkeit???

Da wundert sich der Mensch. Wie kann ein Impuls, der wirksam ist, grundsätzlich gut sein? Eine Wirkung ist Folge eines chemischen, physikalischen, sozialen oder wie immer gearteten Impulses. Wir nehmen z.B. eine Kopfschmerztablette, die chemisch wirkt und den Schmerz lindert, lassen uns massieren, weil über die mechanische Einwirkung unsere Muskulatur besser durchblutet wird, wir trinken Schlaftee, dessen Bestandteile nachweislich auf chemischer Basis wirken, dass wir besser einschlafen können. Alle drei Beispiele setzen zwei Dinge voraus: die Dosis muss stimmen, um die gewünschte Wirkung zu erzeugen, zweitens...die Dosis muss stimmen, um keine Nebenwirkungen hervorzurufen. So weit so bekannt.

Dabei scheint ein dritter Punkt leicht in Vergessenheit zu geraten: der vom Impuls betroffene Organismus muss geeignet sein, diesen (heilsam) zu verarbeiten. So gibt es Menschen, die auf Aspirin allergisch reagieren, andere werden durch Massagen unangenehm erregt und wessen Organismus paradox auf Baldrian regiert, liegt nach dem Schlaftee hellwach und unruhig im Bett. Nun zählen insbesondere Massagen und Kräutertees zur Gruppe der sanft wirkenden Naturheilmittel – sie sind wesentlich weniger erforscht als Aspirin, es gibt keinen Beipackzettel, auf dem Nebenwirkungen vermerkt wären. Das ist ein Dilemma – weil der Mindset „Hat keine Nebenwirkungen“ weit verbreitet ist und Menschen einfach nehmen, was ihnen so in Drogerie und Wellness-Angeboten vorgestellt wird.

Was aber, wenn die Nebenwirkungen einer Medizin nicht nur kleine unangenehme Hintergrundgeräusche machen, sondern im schlimmsten Fall zu Retraumatisierung und großem seelischen Leid führen?

Das Tabu: Meditation mit Nebenwirkungen

Es gibt sie immer wieder in der ganzheitlich ausgerichteten Medizin, die vermeintlichen eilerlegenden Wollmilchsäue, die alles können, allen immer helfen, keine Nebenwirkungen haben. Wir wissen alle, dass es sie nicht geben kann und deshalb wundert es nicht, dass nach 20 Jahren Achtsamkeits-Hype rund um Meditation und Co Ernüchterung auftaucht.

Wie so oft, wenn bahnbrechende, das Weltbild erschütternde therapeutische Verfahren Stück für Stück im Mainstream Fuß fassen, ist der Blick zunächst ausschließlich auf Positives gerichtet. Die Wirkung von Achtsamkeit wurde auf körperliche, seelische, mentale und soziale Fragestellungen hin untersucht und siehe da: es war überall gut.

Nicht ganz, wie sich jetzt langsam aber sicher herausstellt. Natürlich nicht. Selbst wenn der Buddha und Jesus gemeinsam meditiert hätten, wäre daraus kein Allheilmittel für alle Sorgen und Beschwerden dieser Welt geworden.

Achtsamkeit üben: Stillsitzen & nicht denken

Wer anfängt zu meditieren hat meist einen Grund – die drei am häufigsten genannten sind, entspannter, ruhiger und gesünder leben zu wollen, sich bessere Konzentration zu wünschen und/ oder der Wunsch nach spiritueller Weiterentwicklung. Meist ist es wahrscheinlich eine Mischung aus allem.

So weit so gut: Buch gekauft, Podcast abonniert, VHS-Kurs gebucht und schon geht’s los mit der Meditation. Still sitzen und nicht denken, sich damit wohl und leer und entspannt zu fühlen, weniger Schmerzen zu haben, überhaupt soll Meditation doch glücklich machen...so ähnlich stellen sich die meisten Menschen das vermutlich vor, wenn sie beginnen.

Kleiner Haken: damit das klappt, muss mensch viele Wochen und Monate sozusagen täglich üben. Allein dieser Anspruch stellt viele Achtsamkeitswillige vor unüberwindbare Hindernisse – das hat viele Gründe, die zu nennen den Rahmen des Artikels sprengen würde, aber es ist unbestritten, dass es einiges an Reife und intrinsischer Motivation bedarf, also ein tiefes, echtes inneres Wollen kombiniert mit sehr erwachsenen Fähigkeiten wie ausgebildeter Frustrationstoleranz und Affektbeherrschung, um das hinzukriegen.

Deshalb scheitern viele – sie spüren zwar, dass es enorm gut tut, sich täglich die kleinen Stille-Auszeiten zu nehmen, kriegen es aber aus ganz verschiedenen Gründen nicht gut hin. Das macht Frust, lässt an sich selbst zweifeln – das Gefühl des Scheiterns macht sich breit verbunden mit dem Eindruck, alle anderen würden tiefenentspannt relaxen, nur ich selbst mal wieder nicht...

Das ist bitter für die Selbstwirksamkeit, eine Erfahrung, die mehr schadet als sie nützt. Wer an dieser Stelle nicht gut begleitet wird, hat richtig Pech. Gut begleitet zu sein würde übrigens auch heißen können: Diese Form der Meditation ist (im Moment) wahrscheinlich nichts für dich, wir sollten schauen, was du eher brauchen kannst...

Der neue Blick: Traumasensitive Achtsamkeit

Was passieren kann, wenn Menschen durch Meditation in posttraumatischen Stress geraten, weil gerade durch das Stillsitzen und intensive Wahrnehmen der auftretenden Körpersensationen eine Retraumatisierung stattfindet, beschreibt David Treleaven in seinem gleichnamigen Buch. Er hat sich intensiv mit dem Missing Link der Achtsamkeitsbewegung beschäftigt. Die wichtigste Botschaft dieses kostbaren Titels liegt in der Erkenntnis, dass den allerwenigsten Meditationslehrer:innen und -Anleiter:innen bewusst ist, wie stark die Nebenwirkungen sein können. Und dass es auf keinen Fall damit getan ist, den Teilnehmer:innen zu raten, einfach immer weiter zu üben und in der Beobachtung der Sensationen zu bleiben. Das ist in etwa so, als würde man Menschen, die allergisch auf Äpfel reagieren empfehlen, immer wieder Äpfel zu essen – irgendwann würde das System schon Ruhe geben. Wie wir wissen, tut es das nicht, es kollabiert und mündet, wenn es um Äpfel geht, in einen Schock.

In der ARD-Mediathek gibt es einen Beitrag, der sich mit dieser Problematik beschäftigt – im Beitrag kommen Betroffene zu Wort, das ist erschütternd. Problematisiert wird darin auch, dass das Geschäft mit der Achtsamkeit eben genau das ist: ein Geschäft, ein Milliardenmarkt.

Das Buch von David Treleaven geht enorm differenziert vor und ist ein MUSS für alle, die Achtsamkeits-Techniken anleiten oder therapeutisch in diesem Bereich arbeiten. Es ist an der Zeit, dass wir uns mit Nebenwirkungen auseinandersetzen, damit wir die wunderbare Medizin der Achtsamkeitsmeditation hilfreich und professionell einsetzen. Genau darum geht es: Achtsamkeitsübungen als starke Medizin zu begreifen und die Darreichungsformen ebenso wie die Dosis zu modifizieren.

Natürlich besteht kein Zweifel an der heilsamen und weitreichenden Wirkung achtsamer Übungen. Aber wie bei jeder Medizin, siehe oben, muss auch diese zum Menschen, zur Fragestellung und bezogen auf den Zeitpunkt passen. Wer kann das beurteilen? Natürlich der Mensch selbst im Dialog mit einer gut ausgebildeten, und erfahrenen Begleiter:in oder Therapeut:in.

So ist es sehr empfehlenswert, sich dem ausüben der Achtasmkeitsmeditation...achtsam...zu nähern, gut zu prüfen, ob die Methode geeignet ist und ob die anleitende Person einen Blick darauf hat, welche unlibesamen Nebenwirkungen auftreten können.