Albrecht Mahr: Erwachsensein
Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein
Erwachsensein hat für viele einen merkwürdigen Beigeschmack – Erwachsensein schmeckt nach Verantwortung und Pflicht, nach ernsten Gesichtern und vernünftigen Entscheidungen, nach Langeweile und sehr viel Arbeit. Erwachsen sein ist für Kinder genau so lange ein erstrebenswerter Zustand, wie er noch nicht erreicht ist.
Albrecht Mahr, erfahrener klinischer Psychotherapeut und Ausbilder für systemische Aufstellungsarbeit, ist da ganz anderer Meinung.
Der Autor plädiert nämlich für ein durch und durch waches Erwachsenensein, das vor Herausforderungen nicht zurückweicht – Erwachsensein heißt für ihn, ganz präsent und sich seiner selbst, Talente wie Ungereimtheiten eingeschlossen, so weit wie möglich bewusst zu sein.
Dabei spannt er den Bogen weit:
Kindliche Märchenwelten, in denen alles wieder gut wird, werden ebenso als Illusion entlarvt wie feste Identitäten, die wir auch als Erwachsene immer wieder geneigt sind zu bauen.
In den Kapiteln über Herz- und Körperweisheit, über Lebende und Tote oder den Krieg, richtet er den Blick immer wieder auf unsere Chance, ein Leben als Erwachsene, für ihr Handeln verantwortliche Menschen, zu führen – und das ist oft schwer bis unmöglich.
Wir suchen Antworten und werden süchtig, suchen Wahrheit und neigen zu Fundamentalismus, suchen Erklärungen und übersehen die Weisheit unserer Körper.
Erwachsen sein heißt im Mahrschen Sinne, aufzuwachen, heißt zu erkennen, dass es viele Wahrheiten gibt, heißt zu akzeptieren, dass wir vieles nicht verstehen, heißt sich dem Unvermeidlichen menschlichen Leidens zu stellen. Und es heißt, aus dieser Einsicht ein klares, verantwortungsvolles und durch und durch erwachsenes Leben zu führen, das nicht bestimmt ist von autoritären Dogmen oder dominiert von kindlichen Wünschen nach Dauervergnügen und Schmerzfreiheit.
Im Kapitel über die Ursachen von Krieg und dessen scheinbarer Unvermeidbarkeit geht er weit – und was er schreibt, ist schwer verdaulich, weil er auch hier anerkennt, was ist. Sein ebenso kluger wie respektvoller Blick auf Soldaten ist kein anderer als der auf Zivilisten, für ihn sind Angreifer keine Unmenschen, IS-Terroristen sind und bleiben Menschen. Schon für dieses mutige Kapitel, das so differenziert mit dem Thema umgeht, als dass es an dieser Stelle gut zusammenfassbar wäre, lohnt sich das Buch.
Albrecht Mahr zitiert sehr aktuelle Forschungsergebnisse aus Neurowissenschaften und Medizin, bezieht sich auf moderne psychotherapeutische und tradierte spirituelle Weltbilder, mischt das Ganze mit humorvoller Freundlichkeit und deutlich großer Erfahrung als Mensch und Therapeut.
Herausgekommen ist ein Buch, das so viel interessante Impulse beinhaltet, dass es der Rezensentin schwerfällt, es zu rezensieren. Und es ist ein durch und durch freundliches und ermutigendes Buch, auch wenn die Einsichten weder lustig noch leicht sind.
Es ist kein Ratgeber, kein Psychotherapie-Fachbuch und auch kein philosophisches Werk - am ehesten eine anregende Exkursion zu der Frage, was es heißt, hier und da und dort erwachsen zu sein: in Beziehungen, im eigen Körper, Im Umgang mit dem Tod, im Krieg und im Frieden, einzeln und als Gesellschaft.
Die Reise lohnt sich.
Albrecht Mahr
Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein
Scorpio Verlag