An das Wilde glauben
Geschichte einer schmerzhaften Metamorphose
Frau trifft auf Bären. Ein unvorstellbares Ereignis. Und doch so geschehen. Auf der russischen Halbinsel Kamtschatka begegnet Nastassja Martin einem Bären. Sie überlebt den Kampf mit dem Raubtier schwer verletzt und sucht in ihrem sehr persönlichen Buch "An das Wilde glauben" nach Wort und Bedeutung für diese alles verändernde Erfahrung.
Der Kuss des Bären
Am 25. August 2015 wandert die französische Anthropologin Nastassja Martin fernab der Zivilisation durch die Berge von Kamtschatka, als plötzlich ein Bär erscheint und sie angreift. Bär und Frau fletschen die Zähne. Der Bär zertrümmert ihr Kiefer, Jochbein und Bein. Sie riecht seinen Atem, schmeckt ihr Blut, hört ihre Knochen krachen, ihre Zähne brechen und versucht verzweifelt, sich mit einem Eispickel zu wehren. Kurze Zeit später wendet sich der Bär von ihr ab und humpelt davon. Zerschlagen liegt sie am Boden, eine andere geworden.
"Das geschwollene, zerrissene Gesicht gleicht sich nicht mehr. Wie in den Zeiten des Mythos herrscht die Ununterschiedenheit, ich bin diese undeutliche Form, deren Züge in den offenen Breschen des mit Blut und Sekreten verschmierten Gesichts verschwunden sind - es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich kein Tod ist." (Nastassja Martin)
Halb Mensch, halb Tier
"An das Wilde glauben" ist die rigorose Darstellung einer Grenzüberschreitung, einer schmerzhaften Metamorphose. In Nastassja Martins autobiographischem Buch kreisen die Gefühle und Gedanken der Autorin immer wieder um die Begegnung mit dem mächtigen Bären, suchen nach Sinn und Bedeutung. Sie glaubt nicht an den Zufall, sondern spürt den Resonanzen nach.
Die Ewenen, ein indigenes Volk, das seit Jahrtausenden auf Kamtschatka lebt, nennen sie fortan Miedka. Der Begriff bezeichnet einen Menschen, der durch die Begegnung mit einem Bären gezeichnet ist. Die Bezeichnung beruht auf der Vorstellung, dass diese Person eine Metamorphose erfahren hat und fortan halb Mensch, halb Bär ist, eine Art Zwischenwesen. Nastassja Martin wehrt sich gegen diese Auffassung. Gleichzeitig unterstützt sie die animistische Weltsicht der Ewener, ihre grenzüberschreitende Erfahrung zu verarbeiten.
"Da war dieses unbegreifliche Wir, ein Wir, von dem ich dunkel ahne, dass es von weither kommt, aus einer Vergangenheit, die weit hinter unsere begrenzte Existenz zurückreicht (...). Warum haben wir einander ausgewählt?" (Nastassja Martin)
Radikaler Perspektivwechsel
Die Konfrontation mit dem Raubtier entfacht einen inneren Dialog mit dem Andersartigen, zwingt sie zu neuen Perspektiven: Die kühle Beobachterin wird zur Beobachteten, die analysierende Wissenschaftlerin zur mythisch Denkenden, die Zivilisierte zur Wilden, die umso deutlicher die Ausgrenzung der indigenen Völker auf Kamtschatka spürt. Gleichzeitig sieht sie das Leben in der westlichen Welt in einem neuen Licht.
Fazit
"An das Wilde glauben" ist die rigorose Darstellung einer Grenzüberschreitung, einer schmerzhaften Metamorphose. Es ist ein schonungsloses, eigenwilliges Buch, das von Verletzung, Vergebung und Heilung erzählt, von lebensgefährlichen Trekkingtouren, grausamen Schlachtungen und wilden Träumen und Visionen. Ein Buch, das seine Leser*innen bis an die Schmerzgrenze führt, sie verwandelt, sodass sie die Welt mit anderen Augen sehen.
"Die Moderne ist sehr gut darin, das Anderssein aufzunehmen, um sich selbst zu reproduzieren, statt sich zu verändern, um anders zu denken." (Nastassja Martin)
Das gebundene Buch "An das Wilde glauben", erschienen im März 2021, ist für 18 € im Buchhandel vor Ort oder auch bei der sozialen Online-Buchandlung buch7.de erhältlich sein.
Nastassja Martin
An das Wilde glauben
Matthes & Seitz Berlin
140 Seiten
03/2021
Ein Artikel von
Freie Autorin, Text, Lektorat
Hegede 6
kontakt@martinaseifert.de
http://www.martinaseifert.de
Profil von Freie Autorin, Text, Lektorat