Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!
Gedicht von Thich Nhat Hanh aus "Zeiten der Achtsamkeit"
Eigentlich habe ich dem Artikel meiner Kollegin Natalie Nicola nichts mehr hinzuzufügen. Auch ich trage Dankbarkeit für dieses Jahr in meinem Herzen. Dankbarkeit für das, was war, ist und kommen wird.
Dankbarkeit ist ein Ausdruck unserer Natur und öffnet unser Herz für Mitgefühl angesichts des Schmerzes, den viele Wesen in dieser Welt auch in diesem Jahr wieder erleiden und erlitten haben.
Aber es ist auch die Zeit der Stille, die mich dankbar und demütig vor dem verbeugen lässt, das keiner Worte bedarf. Deshalb möchte ich mit einem Gedicht von Thich Nhat Hanh aus dem Buch "Zeiten der Achtsamkeit" schließen - ein Gedicht, das unsere Herzen weitet und zutiefst erwärmt.
Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!
„Sag nicht, dass ich morgen abreisen werde,
denn ich komme auch heute noch an.
Betrachte es ganz tief: Jede Sekunde komme ich an,
sei es als Knospe in einem Frühlingszweig
oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,
der im neuen Nest erst singen lernt.
Ich komme an als Raupe im Herzen der Blume
oder als Juwel, verborgen im Stein.
Ich komme stets gerade erst an, um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.
Ich bin die Eintagsfliege,
die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft.
Und ich bin auch der Vogel, der herabstürzt, um sie zu schnappen.
Ich bin der Frosch, der vergnüglich im klaren
Wasser eines Teiches schwimmt.
Und ich bin die Ringelnatter,
die in der Stille den Frosch verspeist.
Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,
mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke.
Und ich bin der Waffenhändler,
der todbringende Waffen nach Uganda verkauft.
Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht.
Und ich bin auch der Pirat,
mein Herz ist noch nicht fähig,
zu erkennen und zu lieben.
Ich bin ein Mitglied des Politbüros
mit reichlich Macht in meinen Händen.
Und ich bin der Mann, der seine „Blutschuld“
an sein Volk zu zahlen hat
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.
Meine Freude ist wie der Frühling.
So warm, dass sie die Blumen auf der ganzen Erde
erblühen lässt.
Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom.
So mächtig, dass er alle vier Meere ausfüllt.
Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!
Damit ich all mein Weinen und Lachen
zugleich hören kann.
Damit ich sehe,
dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.
Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!
Damit ich erwache!
Damit das Tor meines Herzens von nun an offen steht,
das Tor des Mitgefühls.“
Ein Artikel von
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Hegede 6
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