Die Brücke fließt, das Wasser nicht

Videovortrag der Zen-Lehrerin Corinne Frottier

28. April 2024 von Martina Seifert

In ihrem aktuellen Vortrag „Die Brücke fließt, das Wasser nicht“ spricht mir Corinne Frottier Roshi aus dem Herzen. Weil alles, was sich im Moment so unendlich schwer anfühlt, unlösbar vertrackt und spannungsgeladen, plötzlich etwas leichter zu werden scheint, und das gelingt der Autorin, Hörspielregisseurin und Dharmalehrerin, ohne zu bagatellisieren. Aus ihr spricht die Zen-Erfahrene.

Fushan: Die Brücke fließt

Corinne Frottier bezieht sich in dem Vortrag mit dem kryptischen Titel „Die Brücke fließt, das Wasser nicht“ auf ein Gâthâ (Vers) von Fushan Fayuan (Fu-shan Fa-yuan, Fusan Hoen; 991-1067):
„Empty-handed, I hold a hoe.
Walking on foot, I ride a buffalo.
Passing over a bridge, I see
The bridge flow, but not the water.“
(D. T. Suzuki: Essays in Zen Buddhism. Grove Press, New York, 1994 )

Sie übersetzt diesen Vers mit den Worten:
„Die leere Hand hält die Harke.
Wandelnde Füße, den Büffel reitend.
Ein Mensch geht über die Brücke.
Die Brücke fließt, das Wasser nicht.“

Frisch und neu hin zu uns selbst und der Welt

Die Auswahl dieses Verses begründet Corinne Frottier damit, dass dieser in unsere Zeit, zu den aktuellen Geschehnissen passe und wie wir diesen begegnen. Sie lädt zum Perspektivwechsel ein, nimmt uns mit in ein ganz neues, frisches Universum, ohne den einen, wahren oder objektiven Blick auf Welt und Kosmos zu postulieren. Corinne Frottier geht es um einen frischen, neuen Zugang zu uns selbst und der Welt. Denn die eine, wahre Wirklichkeit, so die Zen-Lehrerin, ist bereits in uns angelegt, allerdings „verdeckt“ von den ständigen egoischen Aktivitäten, wie sie es gerne nennt, von persönlichen Aspekten, Konzepten und Ideologien, mit denen wir uns identifizieren. Solange sich unsere Sicht auf die Welt auf dieser dualistischen Verstandeserkenntnis beschränkt, kann es sich immer nur um eine sehr enge, subjektive Perspektive handeln. Es bedarf der Öffnung und Einsicht in und hin zu uns und die Welt, jenseits des Verstandes, - in die Weite hinein.

Die „Theorie des Regens“ oder „das Offene“

Diese weite und offene 'Qualität' in uns bezeichnet Corinne Frottier explizit nicht als 'Buddha-Natur', 'selbstloses Selbst', 'Gott' oder 'göttliche Quelle', weil die jeweilige Sprache spiritueller Traditionen uns oftmals dazu verleitet, zu glauben, wir hätten bereits die Antwort gefunden auf das, was wir im Grunde noch nicht durchdrungen und erfahren haben. Formulieren wir es aber anders, besteht die Chance, dass unser Geist frisch und neu zu erfahren und erkennen vermag. Dazu kommt mir ein Zitat in den Sinn, das ich kürzlich in dem wunderbaren Buch „Theorie des Regens“ von Ralf Rothmann las:

„Alles ist so reich, wie du offen bist.“
(Suhrkamp Verlag, Berlin, 2023, S. 91)

Diese einfachen, tiefgehenden Worte erinnern mich wiederum an Zeilen aus der 8. Elegie Rilkes:

„Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsre Augen sind wie umgekehrt […] Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, den reinen Raum vor uns, in den die Blumen unendlich aufgehn. Immer ist es Welt und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine, Unüberwachte, das man atmet und unendlich weiß und nicht begehrt.“
(Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus. Suhrkamp Verlag, Berlin, 1978, S. 49 )

Hineinleben in die existenziellen Fragen

Corinnes Worte sprengen auf heilsame Weise unser Alltagsbewusstsein, ohne Schnörkel oder Dünkel, und ermöglichen uns, in unsere Fragen an uns selbst, unsere Existenz und damit auch in unsere Fragen zur aktuellen Weltlage einzutauchen, statt vorschnell beschränkende Antworten zu geben und auf unser Recht zu beharren. Rilkes Worte in „Briefe an einen jungen Dichter.“ (Briefe an einen jungen Dichter. Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus. Hrsg.: Erich Unglaub. Wallstein-Verlag, Göttingen 2019) weisen uns denselben Weg:

„Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen – und dann gebären…

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen und versuchen, die Fragen selber liebzuhaben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“

Mögen wir das Geheimnisvolle in uns bewahren, das große Wunder menschlicher Existenz, des Universums, mit Zuversicht und Mitgefühl.

Vorträge und Buch von Corinne Frottier

Das Video zu Corinne Frottiers Vortrag „Die Brücke fließt, das Wasser nicht“ findest du neben vielen weiteren Vorträgen von ihr auf der Website des GenjoAn e. V. Es lohnt sich, auch das sich an den Vortrag anschließende, ca. 20-minütige Gespräch mit den Zuhörer:innen zu verfolgen.

Ebenfalls empfehlenswert ist Corinne Frottiers einzigartiges Buch zum Thema Selbstannahme und -fürsorge "So wie du bist. Der buddhistische Weg zur Selbstannahme" (Kösel Verlag, München, 2016), das Heilnetz für dich rezensiert hat.

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Freie Autorin, Text, Lektorat