Genuss & Spiritualität

Zwei Seiten des einen Seins

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9. April 2019 von Heilnetz-Beitrag

Rund ums Jahr warten unterschiedlichste Gaumenfreuden und Hochgenüsse auf diejenigen, die gerne tafeln und Spass daran haben, sich das Leben etwas versüssen zu lassen. Aber längst nicht alle Menschen - meist sind es die Frauen - können ungehindert an Essenseinladungen teilnehmen, oder sich ungehemmt den kulinarischen Freuden des Lebens hingeben. Sie leiden unter Essstörungen und der Vorstellung, zu dick zu sein. Diese falsche Selbstwahrnehmung ist der Grund einer oft langen, manchmal sogar lebenslangen Diätkarriere zahlreicher Frauen.

Wenn es besonders tragisch verläuft, mündet dieses Essverhalten in einer Magersucht, manchmal sogar mit tödlichem Ausgang. Gespeist wird dieses falsche Selbstbild tragischerweise tagtäglich von den Medien. Im Fernsehen, in Zeitschriften, aber auch in der Werbung werden uns beständig nur dünne, androgyn aussehende, und damit einhergehend meist krankhaft untergewichtige Frauen als Schönheitsideal und erstrebenswertes Vorbild angepriesen. Dass diese Frauen durchweg offiziell als untergewichtig deklariert werden, wird in den Frauenzeitschriften nicht erwähnt.

Andererseits aber gibt es auch Frauen, die sich von solch krankhaft und oberflächlich ausgerichteten Medien nicht mehr leiten lassen wollen, sondern bestrebt sind, nach einem tieferen Sinn des Lebens zu suchen. Unterstützt wird diese Sinnsuche und Ausrichtung der inneren Werte durch ein allgemein zunehmendes Interesse an Spiritualität. Das hängt zum einen damit zusammen, dass viele erkennen, dass alleine materielle Werte und äußere Ideale nicht glücklich machen. Zum anderen bekennen sich auch immer mehr Prominente zu ihrer Spiritualität, wodurch die Beschäftigung mit spirituellen Themen salonfähiger geworden ist. Mittlerweile haben aber auch Fotomodelle und Schauspielerinnen als Autorinnen von Yogabüchern und Meditationsratgebern Einzug gehalten und speisen bei vielen Frauen das Bild, dass wer Yoga oder Tai Chi macht, genauso dünn sein muß, wie sie. In diesen Ratgebern werden auch Jahrtausendalte klassische spirituelle Texte zitiert, die über einen langen Zeitraum nur persönlich vom Lehrer an den Schüler vermittelt worden, heute aber in jedem Buchladen erhältlich sind.

Spiritualität und richtige Ernährung

In eben vielen dieser spirituellen Schriften spielt auch die Ernährung eine zentrale Rolle. Und damit einhergehend wird in einigen Traditionen und von vielen Lehrern besonders eine reine Ernährung postuliert. So bezieht sich zum Beispiel Swami Sivananda, Begründer einer der bekanntesten Yogaschulen im Westen, in einem seiner Kochbücher auf die Upanishaden, eine der ältesten Weisheitslehren überhaupt: „Die Reinheit der Nahrung bewirkt die Reinigung unserer innersten Natur.“ Durch zahlreiche solcher Zitate ermuntert er Hundertausende von Menschen, die in seine Yogazentren kommen, dazu, sich vegetarisch und rein zu ernähren. Auch andere zentrale spirituelle Schriften aus dem Buddhismus, Yoga oder dem Ayurveda lehren, dass eine gesunde, sogenannte reine „sattvische“ Ernährung von Nöten ist für den spirituellen Weg. Gemeint ist eine Ernährungsweise, die für eine Herstellung bzw. eine Erhaltung eines ruhigen Geistes sorgt, den Körper nicht mit Schadstoffen belastet und leicht verdaulich ist, um Energievergeudung zu vermeiden. Denn erst mit einem ruhigen Geist kann der Mensch sich auf das Wesentliche, das Sein hinter allem konzentrieren, und in ihm aufgehen.

Zu sattivschen Ernährung zählt im Sinne der Bhagavad Gita, 17-8, eine der Heiligen Schriften Indiens alles, „was Leben, Sein, Gesundheit, Kraft, Glück und Freude vermehren kann, schmackthafte, milde, feste Speise, lieblich, ist den Guten lieb." D.h., sattvisch ist alles leichte, wohlbekömmliche, reine und lichte. Hierzu zählt frisches Obst und Gemüse, Vollgetreide, Nüsse, Milch, Käse und Samen.“ Vermeiden sollte man hingegen alles „tamasige“, dass heißt im Sinne der Bhagavad-Gita 17,10 "Was abgestanden, unschmackhaft, stinkend und schon verdorben ist, Reste und Unreines.“ Gemeint ist alles dunkle, träge und schwere, alles schwer verdauliche, zerkochte und denaturierte, wie zum Beispiel: Fleisch, Fisch, Eier und Lebensmitteln in Konserven, fermentierte, angebrannte, gebratene, mehrfach aufgewärmte Lebensmittel, als auch Alkohol und Drogen. Ebenso sollte man darauf achten, dass man nicht zu viel so genannte „rasasige“ Nahrung zu sich nimmt. So heißt es in der Bhagavad-Gita 17,9 "Scharf, sauer, salzig, allzu heiß, streng, unmilde, brennender Art, alles was anregt, aufpeitscht und unruhig macht. Dazu zählen: Zwiebeln, Knoblauch, Kaffee, Tee, Tabak, stark gewürzte und gesalzene Speisen sowie Fertiggerichte und Snacks, raffinierter Zucker, Limonaden und Schokolade. Zu vermeiden ist tamasige Nahrung, weil der Mensch dadurch träge, faul und lethargisch wird. Durch rajasige Nahrungsmittel wird der Geist unruhig und der Mensch neigt zu hyperaktiven Handlungen. Auch weckt diese Nahrung „animalische“ Leidenschaften und stört das Gleichgewicht von Körper und Geist. Im Ayurveda, bei der die Ernährung ebenfalls eine zentrale Rolle für das geistige, körperliche und seelische Wohlergehen des Menschen spielt, kommt es noch einmal zu einer weiteren Feinabstimmung der Ernährung, je nachdem welchem Konstitutionstypen man zugeordnet wird – ob Vata, Pitta oder Kapha oder einer Mischform der verschiedenen Doshas. Auch hier steht eine gesunde, frische und ausgewogene Ernährung im Vordergrund.

Diese Reinerhaltung gilt auch deshalb für den spirituellen Weg als wichtig, damit sich die Seele in dem Körper wohl fühlen und gerne darin verweilen kann. Denn der Körper wird als ein Fahrzeug betrachtet, das von der Seele auf ihrer Reise zur spirituellen Vollkommenheit benutzt wird. Und gleich allen anderen Fahrzeugen stellt auch der menschliche Körper bestimmte Anforderungen. So weiß wohl jeder Autobesitzer, dass man sein Fahrzeug regelmäßig warten muss, ein Ölwechsel von Nöten ist und es den richtigen Treibstoff braucht, damit es nicht nur einigermaßen fahrtüchtig ist, sondern auch am gewünschten Ziel ankommt.

Von gesunder zu krankhafter Ernährung

Was aber passiert, wenn ein Mensch die heilige Texte ohne einen spirituellen Lehrer liest und die darin aufgeführten Ernährungsempfehlungen missversteht? Oder was passiert mit einem Menschen, der unter einer Essstörung oder zwanghaften Tendenzen in Bezug auf Ernährung, Reinigung oder Verhaltensvorschriften leidet, und diese auf seinem spirituellen Weg weiterverfolgt, ohne dies zu merken? Und was passiert, wenn ein Mensch überhaupt nicht mehr in der Lage ist, dass Essen zu genießen, sondern seine ganze Aufmerksamkeit nur der Zusammensetzung oder Zuordnung der Speisen gilt? Und was ist, wenn ein Mensch, der sich seiner Ernährung mit so großer Aufmerksamkeit widmet, dass er vor lauter Konzentration auf die Ernährung, richtige Zubereitung, richtigen Verzehr, sein Ziel aus den Augen verliert: nämlich das spirituellen Wachstum?

Sich mit solchen Fragen zu beschäftigen erscheint notwendig, denn leider geschieht es immer wieder, dass Menschen glauben, sich im spirituellen Sinne gut zu ernähren und durch eine solche „reine“ Ernährung der Erleuchtung ein Stück näher zu kommen. Leider wird es diesen Menschen oftmals nicht bewusst, dass sie sich in einer konzeptionellen Sackgasse befinden, weil sie an der Vorstellung haften, dass sie nur mit einer bestimmten Ernährungsform das spirituelle Ziel erreichen können. Eine solche Einstellung unterliegt insofern einem falschen Konzept über den spirituellen Weg und seinem Ziel, da es ein spirituelles Ziel letztendlich nicht gibt. Denn das SEIN, jenes im spirituellen Sinne gemeinte SEIN, dass nicht-dualistische, wertfreie SEIN, muß nicht erreicht werden, weil es bereits in uns vorhanden ist – in jedem von uns. Egal ob im Bratwurstesser oder im Vegetarier.

Vom spirituell Suchenden zum krankhaften Gesundesser

Beschäftigt sich ein Mensch aber trotzdem extrem und über die Maßen mit seiner Ernährung, verengt sich die Sichtweise auf ein „richtig“ und „falsch“, auf eine wertende eine Fixierung auf bestimmte Vorstellungen, was nicht gegessen werden darf. So wird zum Beispiel dem Verzicht auf Fleisch einen hohen Stellenwert zugemessen, weil für dessen Verzehr Tiere getötet werden müssten. Dieses Verhalten zeugt von einem lobenswerten ethischen Ansatz. Aber nicht allen Menschen ist es von ihrer persönlichen Konstitution her möglich, auf Fleisch zu verzichten. Das trifft zum Beispiel auch für die als spirituell erwacht geltende Münchner Ärztin und spirituelle Lehrerin Pyar Troll zu. In ihrem Buch „Reise ins Nichts“ berichtet sie, dass sie nach spirituellen Erfahrungen eine Zeitlang auf Fleisch verzichtet hatte, dann ber Mangelerscheinungen bekam und wieder Fleisch ass, was ihr der ein oder andere spirituell Suchende sehr übel nahm. Denn wer spirituell sei, müsse doch wohl zwangsläufig auf Fleischverzichten. So ihre Gegner.

Aber nicht nur in Deutschland halten sich viele Menschen unreflektiert an Essensvorschriften und – verbote. Auch in Indien gibt es manchmal die gleichen rigiden Ernährungsvorschriften. So essen zum Beispiel Brahmanen, indische Priester kein Fleisch. Aber auch hier kann es sein, dass gerade der Konsum einer bestimmte Fleischsorte eher ein Segen und damit einhergehend beste Medizin für einen Kranken wäre, wie eine Anekdote aus dem Ayurveda zu erzählen weiß: „Ein Brahmane war sehr krank und ging zu einem alten Ayurveda-Arzt. Dieser, selbst Brahmane und Vegetarier, riet ihm, Schlangenfleisch zu essen. Der Kranke lehnte vehement ab und reiste statt dessen zu dem heiligen Fluss Ganges. Er machte verschiedene Rituale und trank von dem Gangeswasser. Wenig später wurde er gesund. Auf dem Weg zurück lief er noch flussaufwärts. Siehe da die besagte Schlange lag da...“ Heißt es doch auch nicht umsonst, dass man sich nicht in den Himmel essen kann. Und auch Christus führt im Neuen Testament aus, dass die "Reinheit" des Menschen nicht davon abhängt, was in den Mund hineingeht, d.h., was er isst und trinkt, sondern, was aus dem Mund herauskommt, d.h., was er denkt, fühlt und welche Vorsätze er hat.

Wenn gesundes Essen krank macht

Mittlerweile hat sich durch dieses rigides Essverhalten ein neues Krankheitsbild herauskristallisiert, dass der "krankhaften Gesundesser". Gemeint sind Menschen, die sich durch eine übertriebene Sorge um eine gesunde Ernährung auszeichnen. Der Fachbegriff dafür lautet "Orthorexia nervosa". Bezeichnend ist für diese Menschen, dass sie weder an Magersucht noch an Bullemie leiden, sondern „nur“ gesunde Lebensmittel essen möchten. Zu Anzeichen des krankhaften Gesundessers zählen u.a.: Drei Stunden und mehr am Tag über Ernährung nachdenken, die Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus planen, den ernährungsphysiologischen Wert über die Freude am Essen stellen u.v.m.

Noch ist diese Krankheit in Deutschland kaum bekannt. Fachleute sprechen aber von einem Phänomen mit hoher Dunkelziffer. Der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Essstörungen, Diplompsychologe Andreas Schnebel, erklärt: „Sie essen Rohkost, ganz bestimmte biologische Lebensmittel, ganz bestimmte Salze, Gemüse, das nur bei Vollmond gepflückt sein darf.“ „Sie trinken auch kein normales Mineralwasser mehr, sondern es muss ganz spezielles Wasser sein, und es muss vielleicht tagelang offen gestanden haben“, weiß auch der Chef der Münchner Beratungsstelle ANAD-pathways zu berichten. „Manche sind so mit der Zusammenstellung ihres Ernährungsplanes auch beschäftigt, dass sie sich allmählich von der Umwelt isolieren.“ Auch Dr. Hans Rhyner, einer der renommiertesten Spezialisten auf dem Gebiet des Ayurveda, weiß um Menschen mit einem solchen Störungsbild, die seiner Ansicht nach „für jede Störung anfälliger sind, als Bratwurstesser, was nicht sein dürfte.“

Vom rigider Ernährung zum reinen Sein

Wie aber erkenne ich, ob ich rigide bin oder nur ernährungsbewusst? Und woran erkenne ich, ob ich aus meiner Ernährungsweise unter dem Deckmäntelchen der Spiritualität eine Doktrin mache? Und wie gelingt es mir, wenn ich dogmatische Tendenzen habe, alte, strikte Verhaltensvorschriften abzulegen und einen Weg zu gehen, der dem SEIN – im spirituellen Sinne - und der Freude am Sein den entsprechenden Raum gibt, ohne Angst zu haben, übermässig Schlackenstoffe angesammelt zu haben, wenn ich mal ein Glas Wein trinke oder ein Stück Kuchen esse? Braucht es erst einen abgemagerten Körper, an dem man das Rückgrat berührt, sobald man mit einem Finger gegen die Bauchdecke drückt, um zu erkennen, dass der gewünschte Erfolg, nämlich die Erleuchtung, auf diese Weise nicht erfolgt? So erging es nämlich Gautama Buddha, nachdem er sieben Jahre lang gefastet hatte und plötzlich feststellte, dass er durch diese rigide Vorgehensweise nichts erreicht hatte.

Der eine Mensch wird eine solch extreme Erfahrung vielleicht brauchen, um zu erkennen, dass sie ihn nicht wirklich weiterbringt. Ein anderer wird vielleicht schon vorher erkennen, dass es möglich ist, den Weg der Extreme zu verlassen und den „Weg der Mitte“ zu gehen, so wie Buddha ihn nach dieser extremen Erfahrung ging. Einen Weg, der früher oder später auf den Weg jenseits der Verbote und spirituellen Konzepte führt. Dorthin, wo es auch sein darf, das Leben selbst mit all seinen Genüssen zu zelebrieren, und ab und zu kulinarische Köstlichkeiten zu verspeisen, zumal diese doch oft wirklich nur göttlich schmecken.

Dieser Artikel erschien erstmalig im Blog Das Glück der kleinen Dinge von Doris Iding - vielen Dank an die Autorin für die Möglichkeit der Veröffentlichung an dieser Stelle.

Autorin Doris Iding

Yoga-, Meditations- und Achtsamkeitslehrerin, sowie Autorin in den Bereichen Spiritualität, Yoga, Achtsamkeit, Meditation, Gesundheit und Psychologie, seit 16 Jahren Redaktionsmitglied von Yoga aktuell; 18 ihrer Bücher zum Thema Achtsamkeit, Yoga und Spiritualität wurden in andere Sprachen übersetzt.

Doris Idings besonderes Interesse gilt der Achtsamkeit und der Vermittlung eines neuen Bewusstseins, in dem der Mensch nicht mehr dogmatisch an alten Traditionen und Lehren festhält, sondern sich für ein Bewusstsein öffnet,in dem alles miteinander verbunden ist und er sich als Teil dessen erfährt.

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