Heller als der Tag
Heilnetz-Thema des Monats: Licht und Schatten
Licht und Schatten. Wieder einer dieser Dualismen. Unser Geist bewegt sich ständig hin und her. Gegensätze konstituieren unser Denken. Wir sind krank oder gesund, glücklich oder unglücklich, widerwillig oder willens. Aber es gibt auch Zwischentöne, Grauwerte und – es gibt dieses Eine jenseits aller Dualismen und Zwischenräume, an denen wir festhalten und in die wir uns verkriechen.
Raus aus dem Dornengestrüpp in die offene Weite
Ob Licht und Schatten, Tag und Nacht, fremd und vertraut – letztlich sind dies alles nur Worte, auch wenn aus diesen die Welten entstehen, die wir bewohnen. Was wäre, gäben wir all diese Worte, Konzepte und Anschauungen auf, die Geschichten, die wir uns Tag für Tag selbst erzählen, die wir uns selbst glauben und mit denen wir uns identifizieren? Vielleicht träten wir, befreit vom dichten Unterholz unserer "egofizierten" Gedanken, hinaus in die offene Weite, die wir eigentlich sind?
Der Schatten des Vertrauten
Doch der Weg raus scheint schwer, nicht nur für jeden Einzelnen, sondern für ganze Nationen. Jede Nation denkt nur an sich und baut Mauern, um sich vor allem, was fremd erscheint, zu schützen. Das Vertraute sonnt sich im Rampenlicht, wirft lange Schatten auf das Fremde, das draußen bleiben muss und fortan ein Schattendasein führt.
Einlassen auf die Weite
Kennt der Wind, der ohne Anfang und Ende die Erde umkreist, eine Grenze?, fragt ein Zen-Meister. Unterscheidet der Wind zwischen fremd und vertraut, Ich und Du, Licht und Schatten? Der Wind, der die Luft ist, die wir atmen? Dazu fallen mir die Worte der Zen-Meisterin Silvia Ostertag ein:
Einfach wieder
mich einlassen
auf diese Weite,
die atmet,
als sei sie mein Atem.
Nicht mein Atem durchströmt den Körper, sondern die Luft des Weltraums erscheint in mir als Atem. Sich einlassen auf diese Weite, die weder Ich noch Du kennt, vergegenwärtigen, dass Es atmet und nicht ich, würde die Grenze zwischen Licht und Schatten, Tag und Nacht, Vertrautem und Fremdem überschreiten hin zum Großen Licht, der offenen Weite, in der es Nacht in diesem Sinne gar nicht gibt. Eine Erfahrung, von der alle mystischen Traditionen berichten. Licht und Schatten sind lediglich ein Spiel unseres verwirrten dualistischen Geistes, der uns vor Angst zittern lässt.
Lichte Nacht
Gerade in diesen Tagen, in denen Furcht und Sorge die Welt beherrschen, erscheint es besonders wichtig, sich dies immer wieder zu vergegenwärtigen, um sich von der Angst zu befreien und zumindest ahnungsweise an die Erfahrung der innere Weite heranzureichen, die Licht und Schatten, Leben und Tod umfasst. Dann ließe sich unsere Welt nicht mehr so leicht aufteilen in Gut und Böse, denn die Nacht würde lichter als der Tag wie Andreas Gryphius in "Sonette / Das Erste Buch, Kapitel 4" sagt. Die Finsternis würde endlich begreifen, dass auch in ihr das Licht scheint (vgl. Joh. 1,5 Lutherbibel 1912).
Ein Artikel von
Martina Seifert
33617 Bielefeld
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