Körperarbeit bei Magersucht
Gestörtes Körperschema & Körperwahrnehmung
Kurz bevor ich in die Magersucht gerutscht bin, verspürte ich nur einen Wunsch: Ich wollte wieder das Gewicht erreichen, das ich als Jugendliche hatte. Da ich schon immer sehr zielstrebig war, purzelten schon bald die Pfunde und ich nahm immer weiter ab. Zeitgleich begann mein Praktikumssemester in Polen und in meinem kleinen Studentenzimmer in Warschau hatte ich keine Waage. So wurde ich immer dünner und war froh, als ich – nach eigener Einschätzung – das Gewicht erreicht hatte, das ich schon einmal während meiner Pubertät hatte: Schlank, aber nicht zu dünn.
Das böse Erwachen kam, als ich einige Monate später während eines Heimatbesuchs auf der Waage stand und diese deutlich weniger anzeigte, als ich erwartet hatte. Auf einmal geriet in mir alles durcheinander: Ich war nicht nur schlank, nein, ich war bereits deutlich im Untergewicht.
Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Tastsinnesforschung
Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Frauen mit Magersucht ihren Körper als deutlich voluminöser wahrnehmen, als er in Wirklichkeit ist. Über die Ursachen für diese sogenannte Körperschemastörung weiß man bis heute relativ wenig. Auch die Körperwahrnehmung funktioniert nur sehr eingeschränkt bis gar nicht, sodass Betroffene weder Körpersignale noch Sinnesreize gut wahrnehmen können.
Dank der Forschungsarbeiten von Dr. Martin Grunwald vom Haptiklabor in Leipzig, https://www.youtube.com/watch?v=8YIN4Ab5PZ0, ist inzwischen bekannt, dass Betroffene Tastinformationen nicht richtig verarbeiten können und dass ein für den Tastsinn wichtiges Hirnareal weniger aktiv ist.
Mitte der 90-er Jahre führte er eine Studie durch, bei der er Proband*innen Tiefenreliefs ertasten ließ, welche sie anschließend zeichnen sollten. Eine Teilnehmerin konnte die ertasteten Formen ohne erkennbaren, kognitiven Grund überhaupt nicht wiedergeben. Das Einzige, was sie von den anderen unterschied: Sie war untergewichtig.
So wiederholte der Haptikforscher den Versuch mit Frauen mit Magersucht. Das Ergebnis: Bei allen wichen die Bilder stark vom Original ab. Er forschte weiter, suchte nach den Ursachen für dieses Phänomen und nach einem Ansatz, um Betroffene zu unterstützen, einen Bezug zu ihrem Körper zu bekommen.
So ließ er einen Neoprenanzug anfertigen, welche eine Probandin für einen Zeitraum von 15 Wochen drei Mal täglich für eine Stunde unter ihrer Kleidung trug. Durch die Reizung auf der Haut kam die Frau mit ihren Körpergrenzen in Kontakt und mit der Zeit nahm sie auch Signale ihres Körpers immer besser wahr.
Berührungen im körperlichen und im übertragenen Sinne
Diese bahnbrechenden Erkenntnisse von Haptikforscher Martin Grunwald sind ein erfolgsversprechender Ansatz, um mit Betroffenen über den Körper zu arbeiten. Auch in der Praxis entwickeln sich zaghaft, aber kontinuierlich Methoden, um den Körper bei der Begleitung von Frauen mit Magersucht einzubeziehen.
So ist neben dem Tragen des Neoprenanzugs auch die Arbeit mit Berührungen eine Möglichkeit.
Sobald eine Betroffene die Hand eines anderen Menschen auf ihren Unterarm gelegt bekommt und sie ihren Fokus auf diese Berührung richtet, besteht die Möglichkeit, die Fähigkeiten des Spürens zu schulen: Wie fühlt sich die Hand der anderen Person, aber auch die eigene Körperstelle an diesem Ort des Kontakts an? Ist sie kalt oder warm? Ist Anspannung oder Entspannung wahrnehmbar? Fühlt sich diese Berührung angenehm oder unangenehm an? Und was löst sie im Körper aus? Auch die Grenzen des eigenen Körpers lassen sich auf diese Weise besser verorten, sodass die Betroffene ein Gefühl dafür entwickeln kann, wo sie „aufhört“.
Und noch etwas kann die Arbeit mit Berührungen ermöglichen: Die Herstellung eines echten Kontakts Das heißt, dass achtsam eingesetzte Berührungen dabei unterstützen können, dass sich die Betroffene auch im übertragenen Sinne berührt fühlt. Für diese Verbindung auf Herzensebene braucht es nicht ausgefeilte Techniken und Methoden – es kann schon ausreichen, eine Umarmung anzubieten oder die Hand zu halten. Denn es geht darum, der Frau auf wertschätzende, einfühlsame und ehrliche Weise gegenüber zu treten, sodass sie sich gesehen, verstanden und angenommen fühlt.
Diese Verbindung auf Herzensebene ist die Grundlage dafür, um einen anderen Menschen auf seinem Weg zu begleiten. Denn wenn das, was in der gemeinsamen Arbeit geschieht, die Betroffene gar nicht erreicht, weil die Verbindung fehlt, so nützt selbst die beste Methode nichts. Feinfühlig eingesetzte Berührungen dagegen können dabei unterstützen, dass sie sich auch im übertragenen Sinne berührt fühlt.
Auf diese Weise können Frauen mit Magersucht nicht nur immer mehr in ihrem Körper ankommen, sondern sie kommen durch die Begegnung auch auf Herzensebene mit sich selbst in Kontakt und können sich somit immer mehr als ganzheitliches Wesen wahrnehmen. Und zudem es ist doch wirklich schön, sich auf allen Ebenen berührt zu fühlen.
Ein Artikel von
Dorothea Ristau
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