Ubuntu - Ich bin, weil wir sind

Afrikanische Philosophie der Menschlichkeit

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2. Mai 2023 von Martina Seifert

„Ich denke, also bin ich.“ Dieser schicksalhafte Satz des Philosophen Rene Descartes legte den Grundstein für das Konzept des westlichen Selbstbildes. Demgegenüber ist die afrikanische Philosophie Ubuntu von der Auffassung eines Selbst geprägt, das sich ausschließlich in Beziehung zu anderen und der Natur erfährt.

Ich bin nur, weil wir sind

Ubuntu ist eine Lebensweise, die es sich lohnt, in dieser Zeit des grassierenden Individualismus und der Spaltung genauer in den Blick zu nehmen, gründet sie doch auf der Prämisse: „Ich bin, weil wir sind“. Diese relationale Form der Persönlichkeit wurzelt in der Anschauung, dass wir nur wegen und durch andere sind. Ich als Mensch, meine Menschlichkeit und Persönlichkeit, entwickele mich nur in Beziehung zu anderen.

In der Praxis bedeutet dies, dass die Beziehungen innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft Priorität haben gegenüber sämtlichen individuellen Argumenten und Spaltungen innerhalb dieser. Dabei annulliert Ubuntu Individualität nicht. Vielmehr strebt die Philosophie mit Blick auf alle nach Konsens. Tragendes Element ist ein gemeinschaftsstiftendes Ethos, das immer darauf abzielt, zusammenzukommen und einen Konsens zu finden, der die Gemeinschaft und damit zugleich jede Einzelne und jeden Einzelnen fördert. Individuelle Entwicklung geht mit Gemeinschaftsentwicklung einher.

Empathie: Mit den anderen und der Natur fühlen

Ubuntu steht für eine restaurative Gerechtigkeit und setzt sich für diese ein. Als Mensch ist uns die Fähigkeit gegeben, uns selbst zu wahrzunehmen und unsere Gefühle und menschlichen Werte zu reflektieren, um ausgerichtet auf das Wohl aller Beteiligten das Beste daraus zu machen, Distanzen zu überwinden und Heilung im ganzheitlichen Sinne zu erwirken. Diese Form der Empathie bezieht sich nicht allein auf unsere Beziehungen, sondern auch auf die gesamte Natur. So sind beispielsweise aus Sicht der afrikanischen Philosophie Seen und Flüsse Quellen des Lebens. Sie geben dem Menschen Nahrung. Wer sich demnach an Überfischung beteiligt, ist verpflichtet, den Quellen des Lebens, sei es See oder Fluss, etwas zurückzugeben.

Was macht ein gutes Leben aus?

Ubuntu gründet auf dem Gefühl der Verantwortung für andere, und zwar noch bevor die oder der Einzelne an sich selbst denkt. In einem wechselseitigen Prozess des sich Erkennens im Anderen wächst Vertrauen und Mitgefühl. Diese Form der Empathie bleibt nur allzu oft auf der Strecke, wenn Individualismus und Egoismus an erster Stelle stehen, wenn es an erster Stelle um mich selbst als Individuum geht.

Doch auch in der westlichen Welt hat es immer wieder Bemühungen und Bewegungen gegeben, die den Anderen über das Selbst gestellt haben, sei es in der Religion oder Philosophie. Erwähnt sei an dieser Stelle eine der bekanntesten Schriften Martin Bubers, „Ich und Du“, in dem der Religionsphilosoph aufzuzeigen versucht, dass der Mensch erst „am Du zum Ich“ wird; und nicht zuletzt die Bergpredigt, die den Menschen auffordert, unsere Feinde als unsere Freunde zu betrachten.

Universelle Ethik - Emphatie und Resonanz

Auch moderne westliche Wissenschaften, darunter die Neurowissenschaft, teilen mittlerweile diese Auffassung. Nervliche Grundlagen für die menschliche Fähigkeit, in Resonanz zu gehen mit Mensch und Natur, sind die Spiegelneuronen. Als Menschen sind wir zutiefst miteinander verbunden und sind erst durch die anderen, was wir sind. Wir bringen Empathie mit in die Welt und mit ihr Verantwortung für den anderen und die Natur. Unsere vermeintlichen Unterschiede, seien sie kultureller oder religiöser Natur, sind letztlich Konstrukte, wenn auch jahrtausendealte. Wo also anfangen, um eine zunehmend zersplitternde Welt zusammenzubringen, um Heilung und Frieden herbeizuführen?

Ubuntu liefert uns hierfür sicher neben weiteren spirituellen Traditionen heilsame Ansätze, eine universelle Ethik, eine engagierte Form des Dialogs, der auf Versöhnung ausgerichtet ist, auf die Versöhnung von Gesellschaften, die sich wechselseitig feindselig betrachten.

Geschichte der afrikanischen Philosophie

Ubuntu ist tief in der afrikanischen Geschichte verankert und so alt wie die Menschheit selbst. Die Lebensphilosophie findet sich in vielen afrikanischen Gemeinschaften in unterschiedlichen Variationen und sprachlichen Konnotationen wieder. Ubuntu ist sowohl in Westafrika vertreten als auch in der Region Kamerun, aber auch in Ostafrika. Einige der Werte dieser afrikanischen Philosophie stehen nicht geschrieben, sondern ergeben sich aus der Lebensweise der Afrikaner*innen selbst. Es ist eine Lebensart, die das Leben grundsätzlich bejaht und bekräftigt, ein Leben, das nicht als Individuum gelebt wird, sondern nur unter und mit anderen. In der Ubuntu-Kosmologie, insbesondere bei den Bantus, geht es immer ums Ganze, um die Gesamtheit des Universums. Jeder Mensch hat Verantwortung gegenüber den Anderen, den Tieren und Pflanzen. Diese dehnt sich bis auf die Vorfahren aus.

In einem tieferen Sinne bietet Ubuntu eine erkenntnistheoretische Ebene, ein Verständnis und tiefes Erkennen dessen, was es bedeutet, zu sein. Mit der Auffassung der Interdependenz, dass Mensch und Umwelt sich nur wegen ihrer grundlegenden wechselseitigen Abhängigkeit verwirklichen können, geht ein Selbstbewusstsein einher, das sich nur durch andere erkennen und entwickeln kann, - ein Bewusstsein des aufeinander Angewiesenseins, das auf einer Vision der Einheit gründet.

Fazit

Es gibt gute Gründe, warum Menschen sich zu individueller Freiheit hingezogen fühlen. Doch individuelle Freiheit steht nicht zwangsläufig im Widerspruch zum Selbstkonzept von Ubuntu. Jede Einzelne, jeder Einzelne und jede Gesellschaft kommt irgendwann an den Punkt, sich erneuern zu müssen, um in Momenten der Krise, des Konflikts und des Traumas nicht zu stagnieren.

Blicken wir auf Ubuntu, bietet uns diese Philosophie einmal mehr eine Chance, uns neu zu konstituieren und zu regenerieren, uns selbst und die Gesellschaft, in der wir leben. In diesem Prozess der Selbsterneuerung muss es Debatten geben, Auseinandersetzungen, die sich auf einen Konsens im Sinne des Gemeinwohl-Sinns zubewegen. Der oder die Einzelne mag anders denken und fühlen, aber sie oder er wird ihre/seine Sichtweise dem Gemeinwohl angleichen, ohne dass ihi oder ihm die Möglichkeit genommen wird, sich selbst auszudrücken und zu entfalten.

Es geht nicht um Konformität. Gemeinschaft ist immer in Bewegung, ein lebendiger Organismus wie jede Beziehung, die sich ständig in einem Dialogprozess befindet und immer wieder neu erkennt und erfährt.

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