Impuls zum Thema "Krankheit und Zen"

Ein Gastbeitrag von Doris Zölls/ Benediktushof

26. Oktober 2017 von Heilnetz-Beitrag

„Das Wesen der Krankheit ist so dunkel, wie das Wesen des Lebens.“ (Novalis)

Das Leben ist so unbegreiflich, seine Tiefen und Höhen sind so wenig vorhersehbar, so wenig bestimmbar! Dies wird uns angesichts von Krankheit am deutlichsten. „Vor dem Sterben habe ich keine Angst, jedoch vor Siechtum, vor Schmerzen und vor einer ernsten Krankheit, die mich hilflos und abhängig macht.“ Diese Worte höre ich sehr oft und kann sie gut verstehen. Mit Krankheit zu leben ist sehr belastend. Auch wenn wir immer wieder mit ihr konfrontiert sind, werden wir uns nie wirklich an sie gewöhnen können. Wir suchen einen Ausweg und hoffen, wenn wir alles richtig machen, wir uns gesund ernähren, genügend Bewegung haben und uns auch geistig und psychisch stabilisieren, dann können wir einer schlimmeren Krankheit entrinnen.

Einen Ausweg finden

Das ist ein großer Wunsch, den wir vermutlich alle hegen, doch es bleibt ein Wunsch und zeigt nur, wie gerne wir unser Leben in Händen halten und es bestimmen wollen. Schauen wir auf die Lebensstruktur, können wir entdecken, wie diese sich wie eine Welle zeigt, einmal in einem Hoch, das andere Mal in einem Tief. Beide Seiten stehen sich nicht gegenüber. Sie sind keine sich entgegengesetzte Pole. Im Tief liegt das Hoch selbst darinnen und umgekehrt. Das Leben ist ein unentwegtes Fließen, nicht ein linearer Weg, sondern eher wie eine Drehbewegung eines Spiegels, der zwei Seiten besitzt. Krankheit ist die eine Seite und Gesundheit die andere. Das Leben schwingt von einer zur anderen, wobei es die andere Seite immer in sich mitträgt. Diese beiden Seiten sind unentwegt im Wechsel. Krankheit zu entkommen ist daher von der Struktur des Lebens her nicht möglich. Gesundheit trägt Krankheit in sich und die Krankheit die Gesundheit.

Das Unergründliche von Krankheit und Leben

Was aber, wenn sich nur die Seite der Krankheit zeigt, nach dem Alter nicht die Jugend, nach dem Tod nicht das Leben folgt? Bei den letzten beiden würden wir sagen, das ist normal, doch ersteres lässt uns verzweifeln, wir wollen es anders haben. Jetzt ist Wachheit gefordert. Die Seiten sind nicht statisch, sie vollziehen sich nicht in einer Zeitdimension. Alle beiden Seiten fließen unentwegt ineinander. Für uns heißt dies, in den Fluss einzusteigen, sich dem Fließen hinzugeben, jeden Moment neu zu erleben.

Mein Vater war schwer krank, immer hatte er Schmerzen und doch konnte ich erleben, dass es viele Momente in seinem Alltag gab, wo er gesund war, nicht in unserem Sinne, dass sein Leiden weg gewesen wäre, sondern weil er sich einem Augenblick ganz hingeben konnte, sei es, dass er den Sportnachrichten hingebungsvoll lauschte, oder beim Schwimmen, beim Essen, in den Gesprächen mit anderen. Es gab so viele Augenblicke, die er ganz und gar genießen konnte, dass ich als Kind oft vergaß, dass er eigentlich schwer krank war. Er war gesund, auch wenn er krank war.

Es gibt kein Entrinnen, aber das Leben

Wir werden Krankheit nicht entrinnen können, doch es ist ein Segen, wenn sie uns nicht jeden Moment besetzt, uns nicht daran hindert, uns ganz auf das, was gerade das Leben mir schenkt, einzulassen. Manchmal ist es die Krankheit und ich weine vor Schmerz, dann streichelt mir jemand über den Kopf, ich erfahre Erleichterung, ich erlebe nur das Streicheln, ich esse, ich schmecke. Das Leben hat so viele Augenblicke, die mich neben dem Kranksein auch gesund sein lassen, dann schwingt das Leben von einer Seite zur anderen, ich bin im Fluss. Ich erlebe das Leben als ein Fließen und nicht als statische Pole, von denen einer mich niederdrückt. So wie Meister Sekito Kisen im Sandokai, einem Zentext, schreibt:

„Im Licht ist die Dunkelheit.
Schaut nicht nur die dunkle Seite.
Beide hängen voneinander ab.
Wie dieser Schritt von dem, der vorausging.“


Vielen Dank an den Benediktushof

Dieser wunderbare Text erschien begegnete mir im Newsletter des Bendiktushofes, www.west-oestliche-weisheit.de und ich bedanke mich von Herzen bei Doris Zölls selbst und bei Monika Prestel, die dort für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, für die Erlaubnis, ihn auf Heilnetz zu veröffentlichen.

Die Autorin: Doris Zölls

Zen-Meisterin der Zen-Linie „Leere Wolke“ und spirituelle Leiterin des Benediktushofes. Zudem ist sie Vorsitzende des Kuratoriums Zen und Mitglied im Präsidium der 'West-Östliche WeisheitWilligis Jäger Stiftung'.

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