Nachruf auf mich selbst

Gänseblümchen zur Zierde abgelegt auf Sockel einer verwitterten, mit Flechten bewachsenen Statue, langes Gewand, Füße, vielleicht Engel
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25. August 2024 von Nikola Teich

Im Buch "Nachruf auf mich selbst" zieht der Autor Harald Welzer einen weiten Bogen. Von der fehlenden Kulturtechnik des Aufhörens bis zu der „höchst unangenehmen Tatsache“ unserer (und seiner) individuellen Sterblichkeit. Er lädt uns ein, einen Nachruf auf uns selbst zu schreiben, damit wir erkennen, wie wir die Zeit vor dem Ende sinn-voll, lebendig, im Einklang mit unseren Werten als einzelner Mensch und als Gesellschaft wirklich fortschrittlich gestalten können.

Buchbesprechung: „Nachruf auf mich selbst“ von Harald Welzer

Wie wollen wir gelebt haben? Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, stellt uns diese Frage – ganz individuell und als Gesellschaft. Und er gibt uns Einblick in seinen persönlichen Nachruf auf sich selbst, in dem einer seiner Merksätze lautet: „Ich war albern, unernst, interessant, anregend, arrogant, ärgerlich, lehrreich, ungerecht –
aber nie banal.“

Aufhören – aber wie?

Nein, Banalität kann man dem Autor nun wirklich nicht vorwerfen. Sein Buch „Nachruf auf mich selbst“ kommt sprachlich komplex daher: Ich liebe solche Herausforderungen – und gebe gerne zu, dass ich den ein oder anderen Satz mehrfach lesen musste, um zu verstehen. Das Buch ist auch schon ein paar Jahre alt, von 2021 – und es hat an Aktualität nicht verloren.

Einige Kernaussagen des Buches sind:

Unsere Kultur konsumiert ihre eigenen Voraussetzungen und muss somit im Irrtum sein. Hineingeboren in eine kulturelle Realitätsinsel, gibt es so vieles, das uns selbstverständlich scheint; der Gedanke, woher das Immer-mehr eigentlich kommen soll, wird verdrängt. Wir leugnen nicht nur, so gut es geht, den eigenen Tod, sondern auch die Endlichkeit unserer Ressourcen. Die Messbarkeit wirtschaftlichen Erfolgs durch Börsenkurse und Bruttoinlandsprodukt wird auf viele Lebensbereiche übertragen, bei denen man die Sinnhaftigkeit zumindest mal hinterfragen darf: Schulnoten, Anzahl der absolvierten dates...
Wir erschaffen zwar Innovationen, erzielen aber keine Fortschritte; wir bauen Flughäfen für eine Zukunft, in der wir keine Flughäfen mehr brauchen werden.
Es „werden um zwei Generationen zu spät gekommene Techno-Helden wie Elon Musk glühend verehrt, hofiert und mit Geld zugeschissen, obwohl sie nichts anderes zu bieten haben, als die Mobilitätsutopien der 1950er Jahre...“.

Das Leben vor dem Tod gestalten

Welzer will kein Buch schreiben über Klimakatastrophe, Plastikflut, Untergang.
Er fordert auf, sich um die Zeit davor zu kümmern, statt Abgesänge auf die Zukunft zu schreiben: Jede:r stelle sich die Frage, wer und wie wir gewesen sein wollen. Das Tragische an gewöhnlichen Nachrufen ist ja, dass der:die Verstorbene die Worte nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann, es dürfte aus der Perspektive ziemlich egal sein, was drinsteht und Einfluss nehmen kann er:sie auch nicht mehr. Nachrufe sind für die Lebenden! Einen Nachruf auf sich selbst zu schreiben, bedeutet Selbstreflexion, Begegnung mit der eigenen Seelenwahrheit und möglicherweise Selbstverpflichtung – deutlich produktiver als ein posthumer Fremdstempel.

Persönliches

Im zweiten Teil des Buches erzählt Harald Welzer von seinem Herzinfarkt und wie die plötzliche Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit seinen Blickwinkel verändert hat.
Und er gibt den Lesenden einen tiefen Einblick, wie er gelebt haben will. Sein Nachruf auf sich selbst ist überschrieben mit zwölf Merksätzen. Darunter so zauberhafte wie:
„Ich konnte gut Zeit verschwenden.“
„Ich fand gar nichts dabei, zu sagen, was ich dachte.“
„Ich hielt die richtigen Fragen für wichtiger als die falschen Antworten.“


Fazit

Harald Welzer zieht einen weiten Bogen von der fehlenden Kulturtechnik des Aufhörens in unserer Gesellschaft bis hin zu der „höchst unangenehmen Tatsache“ unserer (und seiner) individuellen Sterblichkeit. Er lädt uns ein, einen Nachruf auf uns selbst zu schreiben, damit wir erkennen, wie wir die Zeit vor dem Ende sinn-voll, lebendig, im Einklang mit unseren Werten als einzelner Mensch und als Gesellschaft wirklich fortschrittlich gestalten können. Vom Ende her zu betrachten, schärft den Blick auf das Wesentliche. Ich verrate gerne, dass mein Nachruf mit dem Satz beginnt: „Ich habe wahrhaftig geliebt.“ Welche Merksätze möchtest Du in Deinen Nachruf schreiben?
Ich – mach' jetzt mal 'nen Punkt.

 

Das Buch „Nachruf auf mich selbst“ erhältst Du im Buchhandel vor Ort oder auch bei buch7.de, dem Online-Buchhandel mit sozialer Seite.

„Nachruf auf mich selbst“
Autor: Harald Welzer
288 Seiten
ISBN 978-3-596-70645-7
Verlag: Fischer Taschenbuch

 

 

Ein Artikel von
Nikola Teich